Veröffentlicht: 17.06.2020. Rubrik: Unsortiert
Der Mann am Strand 1. Teil
29. Juni 2016
Lyon
Der junge Mann, der im strahlenden Sonnenschein vor dem Restaurant der Autobahnraststätte bei Lyon herumlungerte, fiel dem Lastwagenfahrer sofort auf. Er hatte etwa schulterlange, hellblonde Haare, die er nachlässig mit einem Haargummi im Nacken zusammengebunden hatte und trug einen hellbraunen Rucksack. Giacomo schätzte ihn auf höchstens 19. Er ging, wie alle anderen, die hier Rast machten, um sich zu stärken, achtlos an ihm vorbei und betrat die Gaststätte. Dort nahm er seine Mittagsmahlzeit ein, trank eine Cola und verließ das Gebäude sofort danach wieder. Der junge Mann stand immer noch vor dem Restaurant. Giacomo wollte wieder ohne ein Wort an ihm vorbeigehen, aber der junge Mann sprach ihn an.
„Excusez-moi", er sprach Französisch ohne Akzent, „könnten Sie mich mitnehmen?"
„Wo willst du denn hin?" Giacoma hatte keine Lust, das junge Bürschchen zu siezen. Er war mindestens zehn Jahre jünger als er selbst.
„Nach Portugal, Monsieur. An die Algarve, in die Nähe von Albufeira."
Giacoma hob die Augenbrauen. „Da hast du aber noch einen weiten Weg vor dir."
„Je sais, Monsieur. Aber ich habe gesehen, wie Sie mit Ihrem Lastwagen hier angekommen sind und gedacht, Sie fahren in die Richtung."
„In die Richtung schon." Giacoma transportierte mit seinem LKW Lebensmittel. Der Bursche hatte wahrscheinlich sein spanisches Kennzeichen bemerkt. „Ich fahre aber nur bis nach Spanien."
Der junge Bursche nickte. „Ja, das dachte ich mir, das würde mir auch schon reichen. Wäre das möglich?"
Giacomo musterte ihn eindringlich, als ob er scharf darüber nachdenken müsste, dann antwortete er mit einem feierlichen „Ja."
„Vielen Dank, Monsieur!" Der Bursche strahlte, streckte ihm seine Hand hin und schüttelte sie ausgiebig. „Mein Name ist übrigens Jacques. Jacques le Butet."
„Giacomo Bianchi."
„Sie sind Italiener?" fragte Jacques so erstaunt, dass Giacomo lächeln musste.
„Meine Eltern sind Italiener, aber ich bin in Frankreich geboren und aufgewachsen. Ich kann aber auch Italienisch sprechen, wenn du Wert darauf legst."
„Um Himmels willen! Dann verstehe ich kein Wort." Jacques strahlte ihn treuherzig an.
„Also dann komm mit", forderte Giacoma ihn auf, „ich hoffe, du hast einen Personalausweis dabei?"
„Klar. Aber den muss man doch gar nicht mehr vorzeigen? Ich dachte, die Grenzkontrollen sind abgeschafft."
„Innerhalb der EU im Großen und Ganzen schon. Aber es kann sein, dass meine Ladung kontrolliert wird und da hätte ich ungern jemanden ohne Personalausweis in meinem LKW. Ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass sie deinen Ausweis sehen wollen, aber besser ist besser."
„Sicher." Jacques begann, an seinem Rucksack herumzunesteln, doch Giacomo winkte ab.
„Lass das, du musst ihn mir jetzt nicht zeigen. Mir reicht es, wenn ich weiß, dass du ihn dabei hast."
„Okay." Inzwischen hatten sie den LKW erreichte und Jacques kletterte neben Giacomo auf den Beifahrersitz. „Das muss ein herrlicher Beruf sein", sagte er sehnsüchtig. „Sie kommen bestimmt viel herum."
Giacomo startete den LKW. „Kann man so sagen", grinste er. „Manchmal ist es auch langweilig, wenn man so lange allein im LKW hockt. Das ist für Leute wie dich von Vorteil - deswegen nehme ich manchmal jemanden mit."
In einem Fischerdorf an der Algarve
Der alte Miguel schlurfte auf die Veranda zu seinem Lieblingssessel. Hier verbrachte er immer seine Mittagsruhe, seit seine Frau vor einem guten Jahr verstorben war. Seitdem störte in der flirrenden Mittagshitze in dem Fischerdorf an der Algarve auch kein Geräusch mehr die Stille. Zumindest normalerweise nicht. Miguels Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr tat sein Übriges.
Miguel war fast eingeschlafen, als ihn lautes Gekeife aus dem Nachbarhaus erschrocken auffahren ließ. Er erkannte die Stimme von Cristina Feirrera, der jungen Frau, die vor drei Monaten dort eingezogen war, verstand aber nicht, was sie sagte, bis auf die Worte „mein Bruder", die sie mehrmals wiederholte. Eine männliche Stimme brüllte zurück. Das musste ihr Freund sein, ein dünner, schwarzhaariger Portugiese, kaum älter als sie, höchstens 20. Miguel hatte ein paarmal gesehen, wie sie ihn ins Haus gelassen hatte und eimmal hatten die beiden engumschlungen auf der gegenüberliegenden Veranda gestanden. Aber eine solche Szene hatte er noch nie erlebt.
Es erfolgte ein Scheppern, als ob jemand Geschirr an die Wand geworfen hätte. Dann herrschte Totenstille, und Minuten später hörte man unten auf der Straße jemanden etwas brüllen, was Miguel aber nicht verstand. Neugierig geworden, lugte Miguel vorsichtig über die Veranda. Er wollte nicht unbedingt gesehen werden, doch dieses Ansinnen war nicht von Erfolg gekrönt. Der junge Portugiese sah zu ihm auf und brüllte: „Sie sind mein Zeuge, Senhor da Silva! Cristina hat mich hinausgeworfen! Mich!" Die Worte waren diesmal laut und deutlich genug, dass Miguel jedes Wort verstand, doch er zog es vor, seine Hand hinter sein Ohr zu legen und mit den Schultern zu zucken, um zu gestikulieren, dass er kein Wort verstanden hatte. „Sie hat mich hinausgeworfen! Mich!" plärrte der Junge unten weiter, „dabei habe ich ihr für den ganzen letzten Monat die Miete bezahlt, weil sie kein Geld mehr hatte! Und zum Dank dafür lädt sie sich irgendeinen dahergelaufenen Idioten ein!"
Cristina erschien auf der gegenüberliegenden Veranda. „Glauben Sie Pedro kein Wort, Senhor da Silva! Ich habe meinen Bruder eingeladen, sonst niemanden! Pedro ist völlig übergeschnappt!"
„Haha, dein Bruder!" wütete Pedro unten auf der Straße weiter, „ich glaube dir kein Wort!"
Als die jungen Leute auf der Straße anfingen, sich wüst zu beschimpfen, zog Miguel sich langsam von der Veranda zurück, schloss die Tür, legte sich auf die Couch und war in Minutenschnelle eingeschlafen.
06.07.2016
In einem Ferienort an der Algarve
„Wir sind da!" Tamara riss die Tür des Taxis auf und sprang hinaus. Heiko folgte ihr sehr viel gemächlicher, nachdem er den Fahrer bezahlt hatte.
„Endlich Urlaub!" Tamara fiel ihm um den Hals und Heiko küsste sie auf den Mund.
„Ja, das wird unser wunderbarer erster Urlaub."
„Wohlverdient! Und weit weg von zu Hause!" Tamara strahlte.
Sie befanden sich in einem kleinen Fischerdorf an der Atlantikküste, ca. 30 Autominuten von Lissabon entfernt, einer Stadt, die Tamara schon immer hatte sehen wollen. Tamara arbeitete als Übersetzerin und sprach fließend Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Portugiesisch.
Im Hotel fielen sie übereinander her, kaum dass sie ihre Koffer ausgepackt hatten. Danach lagen sie glücklich und zufrieden nebeneinander.
„Nachher gehen wir an den Strand"; sagte Heiko.
„Klar." Tamara kuschelte sich an ihn.
Auf ihrem Strandspaziergang lief Tamara vor Heiko her, drehte sich schließlich lachend zu ihm um, während er sie wie wild fotografierte und lief eine ganze Weile rückwärts - bis sie auf einmal über etwas stolperte. Sie konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen, während Heiko ein erschrockenes „Oh!" ausstieß. Tamara wandte sich um.
Im Sand lag ein Mann.
„Ist der hier eingeschlafen? Wie kann man nur ... so nahe am Wasser." Tamara wollte sich bücken, um ihn zu rütteln, doch Heiko riss sie mit einer heftigen Bewegung zurück.
„Um Himmels willen, lass das!"
„Ich kann ihn doch nicht hier liegenlassen! Ich versuche, ihn aufzuwecken! Schau mal, er ist ja schon ganz nass geworden von den Wellen und hat das anscheinend noch nicht mal bemerkt! Wahrscheinlich besoffen oder so, sonst wäre er doch davon wach geworden ...scheint ja ein noch junger Kerl zu sein."
„Tamara - ich glaube, der ist nicht mehr wach zu bekommen."
„Wie kommst du darauf?" Tamara ließ ihren Blick über den Mann am Strand gleiten. Er lag auf der Seite, ein Arm lag über dem Kopf, als habe er nicht ins grelle Licht der Sonne schauen wollen. Der andere Arm lag merkwürdig verdreht auf der Seite. Erst jetzt begriff Tamara, was Heiko meinte, schrie entsetzt auf und schlug sich dann die Hand vor den Mund.
„Ist er tot?"
„Sieht so aus."
„Ich rufe auf jeden Fall die Rettung an." Hektisch kramte Tamara ihr Handy aus der Handtasche und wählte den Notruf.
Doch wie Heiko schon vermutete hatte: Hier kam jede Hilfe zu spät.
Der Tote hatte keinerlei Papiere bei sich. Er war schlank, nicht sehr groß, noch ziemlich jung. ca. Kommissar Carlos Fernandes schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Ein Obdachloser? Fernandes glaubte das nicht. Er trug legere Freizeitkleidung, die aber nicht abgewetzt aussah. Seine schulterlangen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Die beiden jungen Leute, die ihn gefunden hatten, standen sichtlich unter Schock. Der junge Mann sprach kein Wort Portugiesich. Seine Freundin dolmetschte.
„Wir sind heute Mittag gerade erst hier angekommen", hatte er mit ihrer Hilfe zu Protokoll gegeben. „Wir wollten uns den Strand anschauen, da ist meine Freundin über den Mann gestolpert."
Die junge Frau nickte. „Ich dachte zuerst, er sei im Sand eingeschlafen und wollte ihn wecken. Aber Heiko hat gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt."
Um den Fundort der Leiche war der Strand großflächig abgesperrt worden. Fernandes stand mit den beiden jungen Leuten hinter der Absperrung. Ein paar Beamte, die den Toten untersuchten, verdeckten die Sicht auf ihn.
Die junge Frau schluchzte auf. „Warum muss das nur an unserem ersten Urlaubstag passieren? Ich hatte mich so auf den Urlaub gefreut", sagte sie auf Deutsch. Kommissar Fernandes, der bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr in Luxemburg gelebt hatte und daher perfekt Deutsch sprach, verstand jedes Wort. Aber das mussten die jungen Leute ja nicht wissen. Vielleicht war es gar kein Zufall, dass ausgerechnet sie den Toten gefunden hatten. Eines hatte den Kommissar seine Erfahung gelehrt: Jeder war zunächt verdächtig. Obwohl hier noch nicht feststand, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelte. Aber auch das hatte ihn seine Erfahrung gelehrt: Meistens war es eines. Und warum auch sonst hätte man ihn anrufen sollen?
Der junge Mann zog seine Freundin in die Arme und murmelte ein paar tröstende Worte.
„Wie lange bleiben Sie noch hier, Senhora Deister?" fragte Fernandes auf Portugiesisch.
„Eigentlich wollten wir die ganze Woche bleiben", gab die junge Frau zur Antwort.“ „Aber ich weiß nicht, jetzt ..... Heiko, was meinst du?"
„Ich denke, wir sollten bleiben", murmelte ihr Freund so leise, dass Fernandes die Worte kaum verstand. „Das war ja nicht unsere Schuld. Und vielleicht machen wir uns sogar verdächtig, wenn wir jetzt direkt abhauen."
„Oh." Die junge Frau schaute verwirrt. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht."
„Wir müssen erst mal herausfinden, wer der Tote war", sagte Fernandes. „Für alle Fälle, also falls wir noch Fragen haben, notiere ich mir die Adresse ihres Hotels und Ihre Handynummern, wenn Sie so freundlich wären, sie mir zu geben."
„Eigentlich hätten wir die Telefonnummern nicht herausgeben müssen", sagte Heiko später im Hotel. „Oder? Wir haben ja nichts verbrochen."
„Ich weiß auch nicht." Tamara stand vor dem Spiegel. „Aber es hätte wohl keinen guten Eindruck gemacht, wenn wir uns geweigert hätten."
„Da hast du sicher recht." Heiko stand vom Bett auf, stellte sich hinter sie und presste sie an sich. „Aber weißt du was? Ich habe beschlossen, dass wir uns davon den Urlaub nicht verderben lassen. Wir hatten ja nichts damit zu tun, du hast direkt die Rettung gerufen, aber es war nichts mehr zu machen. Wir brauchen uns also nichts vorzuwerfen."
Tamara schmiegte sich an ihn und nickte dann. „Ja, genießen wir einfach unseren Urlaub. Es sterben jeden Tag auf der Welt so viele Leute, wenn man sich da ständig Gedanken drüber machen würde, könnte man ja nie mehr unbeschwert und glücklich sein."
„So ist es." Heiko küsste sie. „Und heute Abend gehen wir in das schicke Restaurant essen, das ich dir gestern schon zeigen wollte."
„Gerne." Tamara strahllte ihn an.
Niemand war als vermisst gemeldet worden und der Tote war gänzlich unbekannt. Deutscher oder Franzose, tippte Fernandes. Mit Sicherheit war er Europäer. Fernandes machte sich auf den Weg in die Abteilng der Rechtsmedizin. Die Obduktion musste mittlerweile abgeschlossen sein.
Fortsetzung folgt