geschrieben 2020 von Bifimaus.
Veröffentlicht: 20.05.2020. Rubrik: Spannung
Wunderlicher Dampf
Es dampfte vor sich hin. An einem warmen Sommertag dampfte eine brühend heiße Tasse Tee auf einem Gartentischchen vor sich hin. Es schien, als wäre sie vergessen worden, denn es war ansonsten sehr still in Haus und Garten.
Das ärgerte den Teedampf. Denn wozu rief man ihn herbei, wenn sich dann keiner für ihn interessierte?
Eine Weile übte er sich noch in Geduld, aber dann wurde es ihm zu heiß mitten im Sommer, in der Sonne, im Garten allein.
In seinem Groll ballte er sich ganz klein zusammen und dehnte sich dann mit Schwung in voller Größe aus. Und schwupps, saß er im Schatten auf einem der Äste des großen Walnussbaumes am Ende des Rasens.
Er entspannte sich, und da kam auch die ihm innewohnende Gelassenheit zurück. Freude umringte ihn wieder. Er sah hinab in den Garten und betrachtete die Situation aus der Vogelperspektive.
Es war tatsächlich ungewöhnlich ruhig. Wo blieb nur die Dame des Hauses? Und ihr Besuch? Normalerweise liebte der Dampf diese Teestunden im Garten.
Ob er nachsehen sollte? Als er in den Garten gebracht worden war, war alles wie immer gewesen. Aber er erinnerte sich wie stickig es im Haus gewesen war. Man sieht schon, der Teedampf war zwar ein gelassener Typ aber auch etwas bequem. Er wackelte hin und her, und dabei wurde ihm etwas frisch. Das half, eine Entscheidung zu treffen. Also schwebte er in Richtung Haus. Die Tür zum Garten stand noch offen, so schwebte er ungehindert hinein. Ringsum Stille. Er schwebte weiter.
Er kannte nur die Küche, deshalb zog es ihn dahin. Mit halb geschlossenen Augen durchquerte er die Tür, als er gegen etwas knallte. Er öffnete die Augen, erschrak und knallte gegen den Türbalken. Der völlig lädierte Teedampf klammerte sich am oberen Rand der halb offen-stehenden Tür, gegen die er zuerst geknallt war. Er besah sich die Lage. Unter ihm auf dem Küchenfußboden beugte sich die Dame des Hauses über etwas. Zuerst hatte der Teedampf sie nicht gleich erkannt, denn alles damenhafte war in Tränen und Wirrniss aufgelöst. Das einzig damenhafte war ein Lappen in ihrer Hand, mit dem sie den Boden aufwischen wollte. Allerdings ruhte der Lappen immer wieder, und die Frau starrte dann auf ein Foto. Es zeigte ein fröhliches Pärchen.
Dann wischte sie weiter den Boden. Rote Flüssigkeit vermischte sich mit Tränen. Schließlich brach die Dame entgültig zusammen. Sie nahm das Foto, ließ den Lappen liegen und rannte aus dem Haus. Zurück blieb der erkaltete Teedampf und der übliche Besucher, der auch auf dem Foto gewesen war. Und auf vielen anderen Fotos im Haus. Jetzt lag er tot auf dem Küchenfußboden.