Veröffentlicht: 23.10.2017. Rubrik: Menschliches
Falsche Freunde
„Papa, heute haben wir in der Englischstunde über Ida gelacht!“, erzählte Lena. „Sie sollte übersetzen: ‚Das Mädchen bekam eine Gans‘ und sagte: ‚The girl became a goose‘! Hahaha!“
Lenas Vater Frank Becker stimmte nicht in das Gelächter ein. Er war wütend auf den Lehrer. Was für ein blöder Satz, dachte er, der Kerl hat doch nur darauf gewartet, dass das arme Mädel ihn falsch übersetzt. Beim Elternsprechtag würde er diesem merkwürdigen Pädagogen die Meinung geigen. Aber da er Lena nicht gegen ihren Lehrer aufbringen
wollte, sagte er nur: „Ihr hättet Ida nicht auslachen sollen.“
„Wir haben sie nicht ausgelacht, wir haben über sie gelacht.“
„Das ist in diesem Fall dasselbe. Was die Übersetzung betrifft: Solche Fehler passieren jedem, der mit Fremdsprachen zu tun hat.“
„Aber ICH weiß nun wirklich, dass ‚become‘ nicht ‚bekommen‘, sondern ‚werden‘ bedeutet“, protestierte Lena.
„Weißt du denn auch schon, was ‚sensibel‘ auf Englisch heißt?“
„‚Sensible!‘“
„Eben nicht!“, schmunzelte ihr Vater. „‚Sensible‘ bedeutet ‚vernünftig‘. Das deutsche ‚sensibel‘ ist ‚sensitive‘!“
Lena schaute ihn verblüfft an.
„Tja“, fuhr Frank fort, „das sind die berühmten ‚falschen Freunde‘. Wörter aus verschiedenen Sprachen, die sich ähneln oder sogar gleichen, aber unterschiedliche Bedeutungen haben. Damit können einem die drolligsten Sachen passieren. In unserem Büro haben wir viel Kontakt mit Ost- und Südosteuropa. Einmal hatte ein polnischer Kunde seinen Besuch für den soundsovielten ‚Listopad‘ angekündigt. Ich kann kein Polnisch, aber Kroatisch und wusste, dass ‚Listopad‘ Oktober ist – wörtlich übersetzt bedeutet der Name ‚Blätterfall‘. Daher trug ich den Termin für Oktober ein. Als der Kunde nicht kam, fragten wir nach und erfuhren, dass ich mich um einen ganzen Monat vertan hatte. Im Polnischen bedeutet Listopad nämlich November!“
„Ach du Schreck“, lachte Lena. „Woher kommt das denn? Fallen in Polen die Blätter später von den Bäumen als in Kroatien?“
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht“, musste Frank zugeben und war insgeheim stolz auf die Gedankengänge seiner Tochter. Vielleicht wird sie mal Wissenschaftlerin, dachte er.
Lena schwieg eine Minute. „Papa“, sagte sie dann, „es tut mir leid, dass ich über Ida gelacht habe. Die anderen taten das zwar auch, aber trotzdem… Wie kann ich mich bei ihr entschuldigen?“
„Lad sie doch mal zu uns ein“, schlug Frank vor. „Ich hab sie mal in der Schule gesehen, sie scheint ein nettes Mädel zu sein. Vielleicht werdet ihr ja mal richtige Freundinnen. Dank einem falschen Freund!“