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geschrieben 2017 von Wattwurm.
Veröffentlicht: 11.11.2019. Rubrik: Spannung


Schnee

Weiß. Für eine Sekunde war alles weiß.
Als Kind hatte er den Winter noch geliebt: Schneeballschlachten mit Freunden und heiße Schokolade vor dem Kamin. Was hatte er den Winter geliebt, besonders Weihnachten… dass am vierundzwanzigsten Dezember irgendein bärtiger Mann geboren worden war, den keiner jemals gesehen hatte und der niemandem mehr helfen konnte, war ihm dabei herzlich egal gewesen und war es immer noch. Nein, Weihnachten war nicht der Religion wegen besonders gewesen. Unwillkürlich kamen Erinnerungen an vergangene Zeiten hoch, nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber doch lang genug, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und längst vergessen geglaubte Emotionen zu wecken.
Bilder von einer älteren Dame ohne Haare, die ihn traurig anlächelte, während er nass und frierend in seinem Sessel vor dem Kamin saß und eines seiner heißgeliebten Comics las. Die Gedanken an seine krebskranke Mutter ließen ihn nicht mehr los, seit sie vor siebzehn Jahren ihrer Krankheit erlag. Jeden Tag dachte er an sie, jeden Tag versuchte er, sie zu vergessen, konnte es aber nie. Zu groß war der Schmerz. Auch sein Vater war dabei keine große Hilfe gewesen: Übergewichtig, ständig alkoholisiert und latent gewalttätig passte er perfekt in das stereotype Bild des verantwortungslosen Vaters und Ehemanns zuhause. Seine Mutter, schon hoffungslos überfordert durch die Kinder und den Haushalt, hatte es nie gewagt ihm zu widersprechen, schon ahnend, was sie erwartet hätte. Also erledigte sie eine lange Zeit lang alle Besorgungen und kümmerte sich um den Nachwuchs… bis sich eines Winters alles veränderte.
Der erste Schnee des Jahres lag dezimeterdick auf den Hausdächern und Mülltonnen, die Luft war eisig und der Wind schnitt gnadenlos durch Jacken und Hosen gleichermaßen. Es war ein solches Wetter, dass selbst die Katze des Hauses, ein bemitleidenswertes Geschöpf, das zu Recht die meiste Zeit draußen verbrachte, sich kaum ins Freie traute. An jenem Tag flatterte ein Brief mit der Post ins Haus, den sein Vater nur mit einem desinteressierten Grunzen bedachte. Sein ältester Bruder war der Schnellste gewesen, ungeduldig riss er den Umschlag auf, auf den der Name seiner Mutter in schwarzen Lettern gedruckt war. Noch bevor ihn jemand aufhalten konnte, hatte er bereits die ersten Zeilen gelesen.
Sein Gesicht wurde aschfahl, das Schriftstück entglitt seinen zitternden Fingern und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er hatte damals ein flaues Gefühl im Magen gespürt, schon ahnend, was ihn erwartete. Natürlich hatte er Recht behalten.
Keuchend hob er seinen Kopf aus dem weißen Pulver, sich seiner Umgebung nicht länger im Klaren. Benommen taumelte er aus seinem Sessel gegen die Metallplatte, auf der eine frische Rasierklinge und ein Geldschein lagen, und warf beides mit einem scheppernden Knall zu Boden. Eine helle Wolke breitete sich auf Höhe seiner Knöchel aus und bedeckte seine Hose wie seine Schuhe mit einem feinen Film aus weißem Staub. Es war dem mittelalten Herrn egal.
Tränen liefen ihm über die Wangen; Er klammerte sich an einem Regal fest, bis die Knöchel weiß aus seiner Hand hervortraten. Er hätte etwas tun müssen, trotz seines jungen Alters hätte er sich für die geschundene Frau einsetzen müssen. Er hatte sich schon immer Vorwürfe deswegen gemacht, aber selten war sein Beschützerinstinkt so stark gewesen wie jetzt.
Als er sein Elternhaus schließlich mit neunzehn Jahren verlassen hatte, war dies nicht aus freien Stücken geschehen. Seine Mutter war schließlich verstorben und hatte seinem Stiefvater eine für ihn vollends unlösbare Aufgabe hinterlassen: Das Führen des Haushaltes. Der steigende Blutdruck des neuen Oberhauptes war für die beiden Sprösslinge stets deutlich zu spüren und schlug sich unter anderem in permanenter Schikane nieder. Doch erst als sein Bruder die Katze des Hauses leblos in einer Mülltonne fand, verließ er ohne weitere Worte sein Elternhaus und traf die Entscheidung. Diesmal musste es endgültig sein.
Was er damals nicht hatte tun können, wollte er heute endlich zu Ende bringen. Schon seit langem überwachte er den Schriftverkehr seines Vaters und hatte ihn in seiner Freizeit immer wieder beobachtet, wie er seinen „Beschäftigungen“ nachging. Jedoch nicht an diesem Tag. Viel zu nervös war er mit den Vorbereitungen für die Tat gewesen, bis schließlich alles vorbereitet war und er mit seinem Gewissen abgeschlossen hatte. Wenn sein Vater an diesem Tag nach Hause kommen würde, würde er schon auf ihn warten. Und er würde ihn büßen lassen, für all das, was er ihnen angetan hatte. Diesmal musste es endgültig sein.
Er schulterte seinen Rucksack und machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Station: Ein Ticket brauchte er nicht, schließlich arbeitete er für die Firma. Mitarbeiter sollten nicht zahlen müssen, befand er, und stieg gleichgültig in den Zug ein.
Zwanzig Minuten später fand er sich vor der Tür des Reihenhauses wieder, in dem sein leiblicher Vater lebte. Mit geschickten Handgriffen holte er ein kleines Gerät aus seinem Rucksack, nestelte einige Sekunden an dem Schloss herum und vernahm kurz darauf ein befriedigendes Klicken. Er öffnete die Tür, und was er sah, verschlug ihm den Atem.
Draußen fiel gerade der erste Schnee des Jahres, als der jüngste Sohn der Familie sich durch Berge von leeren und vollen Bierdosen, Essensresten, Pizzakartons und anderem Müll kämpfte. Sämtliche Räume des Hauses strotzten vor Dreck und rochen entsprechend, was er mit aller Kraft zu ignorieren versuchte. Seine Augen überprüften jeden Raum, durchsuchten jeden Winkel, ob sich nicht doch ein Zeichen von Besserung seines Vaters finden ließ. Sie fanden nichts. Von plötzlich aufsteigender Wut beflügelt, lief er entschlossen ins Wohnzimmer, wo er auf einen uralten Sessel stieß. Seinen Sessel. Er war kaum wiederzuerkennen, mit Fett verdreckt und nach Bier und Erbrochenem stinkend, doch es war sein Sessel. Inzwischen kochte er innerlich vor Wut und tastete in seinem Rucksack herum, bis seine Finger an das kalte Metall eines Revolvers stießen. Er öffnete schnell die Trommel und zählte nach: 3 Kugeln, auf jede einzelne hatte er den Namen der Person geschrieben, dessen Leben sie beenden sollte. Schließlich musste es endgültig sein. Er setzte sich ein letztes Mal in seinen Sessel und wartete geduldig.
Die Tür knallt zu, er erwacht. Schon jetzt kann er hören, wie eine Person durch die Müllmassen läuft und keinen Wert darauf legt, den Dosen auszuweichen. Außerdem redet sie, scheinbar mit sich selbst, während sie sich dem Wohnzimmer nähert. Der junge Mann legt an, sein Herz rast.
Plötzlich geht über ihm das Licht an, und sein Vater betritt den Raum. Sein Gesicht ist sichtlich gekennzeichnet vom Leben, das Grau-Braun seiner Haare unterscheidet sich kaum vom ungesunden Grau des von tiefen Falten geprägten Gesichtes. In seiner Hand befindet sich eine Bierdose, die scheppernd zu Boden fällt, als er den Bewaffneten erblickt. Eine goldene Lache verteilt sich auf dem Parkett, während ein Blick nach draußen dem Jüngeren der beiden verrät, dass Schnee inzwischen in großen Mengen vom Himmel fällt. „Scheint, als würden schlechte Nachrichten Schnee mitbringen.“
„Was? Warum? Was machst du hier?“ stammelt der Grauhaarige verwirrt. Als sein Sohn zu einer Antwort ansetzt, erblickt er ein kleines, sorgfältig gerahmtes Bild an der Wand, das eine längst verstorbene Frau zeigt; Seine Augen füllen sich mit Tränen. „Bist du stolz darauf?“ schreit er seinem Vater entgegen.
„Stolz? Was? Es ist nicht wie du denkst, es…“
Klick. Ein Schuss hallt im gesamten Haus wieder, dann noch einer, klick. Endgültig.

Die goldene Lache hat inzwischen ein tiefes Rot angenommen, das Bild an der Wand ist mit Blut beschmiert. Als wenige Minuten später, nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, ein dritter Schuss fällt, ist nur eine Polizeisirene in der Ferne und das Rauschen. Das Rauschen des Schneesturms zu hören. Klick.
Endgültig.

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