Veröffentlicht: 26.09.2019. Rubrik: Menschliches
Blumen in blum
Verlegen in Gedanken streifte der Junge die Parkbank, auf der sie sonst saß. Es gab doch gar keinen Grund, nervös zu sein, sie hier zu erwarten, an einem Sonntag. Oder? Beim Umsehen fassten seine Füße wieder Grund, als er zurück auf den weißen Kiesel schritt. Wie konnten an so einem friedlichen Ort sich nicht mal sonntags die Menschen versammeln? Oder waren die alle in der Kirche? Wie friedlich wäre der Park noch, wenn erst einmal die Familien mit ihrem Gepolter, die Singles mit ihren erwartungsvollen Blicken und die Jugendlichen mit einer beliebig übersteigerten Kombination der beiden das Grün in Aufruhr versetzten. Quinn hatte Verständnis für sich, noch eine weitere Runde zu drehen, ehe er sich dann erholsam sicher und alleine auf die Bank bequemte. So sah sie also die Welt in den Pausen. Versteckte Häuserblöcke schienen unbekümmert dazulegen, verdeckt vom Rascheln der Bäume. Das Zentrum des Parks, zudem auch zwei Wege diagonal führten, bildete die Statue eines unbedeutenden Dichters. Quinn mochte sie, während die meisten beim Anblick der Statue und der Inschrift den Umweg bereuten. „Griff nach den Sternen… aber hier sehen wir doch nicht mehr als den krampfhaften Versuch, sich eben nach den Sternen zu strecken, wie es der Titel unfehlbar verrät. Der angestrengte Blick der Statue ist nichts weiter als das Abbild der Existenzängste des Künstlers. Und die langen, gelockten Haare, die nach oben abstehen? Der Exzess des Schaffens, der einen jeden Künstler irgendwann in den Ruin treiben muss“. SO oder so ähnlich hat es die Zeitung geschrieben. Oder war es Quinns Klassenlehrer, als sie, die Klasse, am Wandertag den Park passierten? Es gab einige Menschen, die das Rätsel der Figur wirklich in die Verzweiflung zu treiben schien. Ihr Gesichtsausdruck passte ebenso wenig in irgendeine Schublade wie ihre Pose. Allein über ihr Geschlecht redeten die Leute, eigentlich ständig. Und beließen es nicht mal dabei, nein, sie veranlassten, um dem Wahnsinn entgegenzusteuern, sogar Bürgerabstimmungen. AbstimmungEN. In der Mehrzahl! Für eine Kleinstadt könne eine jede symbolträchtige Figur, vor Allem so zentral in einem der rar gesäten Parks, wer auch immer sie dahin gestellt habe und warum, identitätsgebend sein. Zum Glück wagte sich zumindest niemand, wahrscheinlich allein aus Respekt zu den Vorfahren, zu irgendwelchen unbekannten Vor-Vorfahren, sie abreißen zu lassen. Dachte sie das auch, wenn sie hier sitzt? Dachte sie auch über bedeutungslose Mehrzahlen von Abstimmungen nach? Bestimmt nicht. Sie fand sicher auf viele Fragen bereits eine Antwort, das lag ihr einfach. Sie wusste zum Beispiel genau, wie sie gucken musste, dass alle sie mögen. Sie wusste, was sie anziehen konnte, um schöne Menschen zu verführen. Wenn er sie überhaupt nur kennen lernen konnte, in einem verdrehten unlogischen Universum, dann hier. Als Quinn sich umsah, hatten sich bereits die sonst so schüchternen Spatzen um ihn herum auf den Armlehnen versammelt, die wohl seine Regungslosigkeit als einen Akt von stiller Zuneigung begriffen. Sowie Quinn nach dem Glockenturm suchte, fühlte er sich ertappt. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem er sich gesetzt hatte? Es war Abend geworden, die Bank gehörte wieder für eine Woche der Platzschönheit. Aber auch nur so lange. Nächsten Sonntag würde er wiederkommen.
Vielleicht war sie heute sogar da. Vielleicht hatte sie ihn letzte Woche gesehen? Warum sollte sie einen freien Tag im Park verbringen, ist das nicht die Zeit, die Prinzessinnen mit ihren Freunden (Untertanen) verbringen? Aus Gewohnheit nahm Quinn den Umweg an der Schule vorbei, durch die lange Unterführung, und mit jedem Schritt verstummten die Menschen, Autos und Hochhäuser Häuserblocks ein wenig mehr. Die Schwelle des Parks bestimmte eine unscheinbare Kante, der Übergang des Pflasters in das Eingangstor, wo die rote Erde plattgetreten war. Manchmal ging Quinn an dieser Stelle rückwärts hinein, um zu sehen, was er für wenigstens ein paar Momente hinter sich lassen konnte. Der erste Schritt in den knirschenden Kiesel ließ sich immer wieder als der Punkt festmachen, an dem die Spannung der Glieder und der Druck in den Adern sich verfloss. Wie auch sonst als fremdgelenkt automatisch drehte Quinn sich hin zur Bank, ging einen mutigen Schritt vorwärts und--- bremste sich. Jemand hatte es gewagt, sich auf seine Bank zu setzen, auf ihre Bank. Sie. Sie hat es gewagt, sich auf ihre Bank zu setzen, genau in die Mitte. Sie hielt ein Buch vor sich auf dem Schoß. Durch die verwehten blonden Strähnen ließ sich ihr Blick nicht erahnen, bloß der rote Lippenstift schien in der Sonne. Hatte sie Quinn nicht bemerkt? Oder besser, wie konnte sie Quinn nicht bemerkt haben? Er begann wieder zu laufen, und zum ersten Mal seit langem gab er nicht der Neigung nach, den Moment vorauszusehen, begehrte er allein ein Aufeinandertreffen, eine Kollision mit ihr. Im Park. Es bestand ohnehin nicht mehr die Möglichkeit, umzukehren oder an ihr vorbei zu schleichen. Alle Steine, die ihm zuvor er selbst und andere in den Weg gelegt hatten, zeigten sich erst jetzt als weiße, harmlose Kiesel. Und die trauten sich kaum mehr, einen Laut zu tun, als er vor ihr stehen blieb. Zum ersten Mal sah sie auf, musterte ihn und rückte, als wäre es das größte Selbstverständnis, zur Seite.
„Hast du auf mich gewartet?“ fragte sie, den Blick wieder ins Leere schweifend.
„Ich…Bist es nicht du, die hier sitzt?“
„Nimm Platz. Lass uns doch zusammen sitzen.“
„Darf ich fragen worauf du wartest? Du bist doch oft hier also- in den Pausen- hab ich gehört,“
„Lange Zeit dachte ich, ich warte auf gar nichts. Findest du es nicht auch schön, wenn manche Rätsel für immer ungelöst bleiben?“, sie legte das Buch beiseite.
„Wie das der Statue meinst du? Ja. Ist es das, worüber du nachdenkst, wenn du hier sitzt?“
„Irgendwann mal war es das. Jetzt zeigt sich mir der Anblick aller Figuren, die sich durch den Park bewegen. Mir erscheint jedes Schicksal in einem so winzigen Kosmos, und auf genau einer Stelle im Park.“
Quinn versuchte, ihre Worte logisch und neu aneinanderzureihen, was meinte sie nur damit? Erst bei seinem energischen Griff an die Stirn erlöste sie ihn. Sie fuhr seine Hand wieder hinunter und umschloss sie sanft.
„Lehn‘ dich zurück und lass es passieren.“ Sie schloss die Augen und drückte seine Hand weiter.
Quinn war gefordert. Sollte er etwas bestimmtes jetzt erkennen können? Der Park lag still da, wie schon bei seiner Ankunft. Bis er endlich in ihrem leisen Puls versank. Mit jedem Atemzug fühlte Quinn sich weniger beobachtet, und weniger alleine. Sein Blick schweifte ab in die Ferne, das Blau des bleichen Frühlingstages hatte er bis jetzt nicht bemerkt. Und daneben schob sich ein Veilchen ins Bild. Das schönste Veilchen im Meer der gut sortierten Gartenschau leuchtete endlich allein. Quinn konnte die Anwesenheit eines Kindes fast spüren, das dieses eine Veilchen pflückt und nach Hause bringt. Ein Kind, das auf dem Nachhauseweg an seine Mutter denkt und ihr eine Freude bereiten wird. Schräg gegenüber von der Bank sieht er vor den Kinderaugen noch etwas anderes im Gebüsch aufblitzen. Eine noch halb vergrabene Spritze, die ein Student noch kurz zuvor in einer kalten Nacht sich ermüdet in die Bahnen jagte. Sie fasst noch in kleinen Mengen sein Blut, um die Geschichte der Wahrheit weiter wandern zu lassen. Schließlich gräbt der Hund sie vollends aus und streift mit der Pfote die Spitze. Dabei scheint er den Besitzer als Menschen und seine andere, berauschte Persönlichkeit gespalten erschnüffeln zu können. Sein Herrschen, eine junge Dame, verliert sich verlegen in Blicken nach vorne, wo noch niemand zu sehen ist. Plötzlich sucht die Frau irritiert vor sich Halt, sie lässt vor Schreck die Leine fallen. Etwas hat ihr Empfinden gestört, etwas ist hier, was nicht hier sein sollte, jemand kontrolliert sie. Die Frau erstarrt für die Sekunde, dreht langsam ihren Kopf nach rechts. Sie schaut Quinn entsetzlich genau in die Augen. Und erst als sie zitternd zu weinen beginnt, merkt Quinn wie sein Puls gewaltige Wellen auf sie schlägt. Zusammenzuckend löst er sich von der warmen Hand an seiner Seite. Sie saß noch da, das blonde Mädchen, hatte jetzt nur ihr Lächeln zum Teil aufgegeben.
„Wir dürfen nicht zu lange bei ihnen bleiben.“, flüsterte sie: „Das ist diese eine Regel, die ich noch nie brechen konnte.“
„Ist es das was dich treibt, immer wieder herzukommen, ein paar traurige Rätsel des Alltags nur mit dir, ganz im Reinen zu lösen?“, Quinn wischte sich schnaufend eine Träne aus den Augenliedern.
„Meine Welt, unsere Augen, haben schon immer einen falschen Sinn gezeichnet. Es ist schon immer diese verkehrte Ordnung gewesen, die uns anzieht und mich zu dir gebracht hat.“
„Ich hab‘ das Gefühl dich so lange zu kennen. Und trotzdem verwehrst du mir die Antwort?“
In diesem Moment drehte sie sich zu ihm hin. Sie lächelte voller Zuversicht und packte ihn an den Händen, um gemeinsam aufzustehen. Unterm Himmel im verborgenen Park errötete ihre Wange dann, noch bevor sie etwas sagte:
„Quinn, du bist ein Geschenk. Ich zeige dich der ganzen Welt, und jeder der dich sehen will, bekommt uns als Paar in Erinnerung. Ich habe nicht mehr vor, zu warten, also küss mich, Süße!“
Verschwommen hinter dem Liebespaar tat die Statue erfreut das, was sie immer tat. Sie übte ihren Handstand.