Veröffentlicht: 06.07.2018. Rubrik: Nachdenkliches
Wiedersehen
Nur noch wenige Minuten bis zu seinem Rekordversuch. Er wollte als erster Mensch über Einhundert Meter tief tauchen, ohne Sauerstoffflasche, mit nur einem einzigen Atemzug. Nachdem er seinen Schnorchel in den Mund nahm, griff er die Schnalle der Boje und ließ sich mit dem Blick nach unten von den sanften Wellen treiben.
„Zwei Minuten bis zum Tauchgang!“, rief der Schiedsrichter. Plötzlich erinnerte ich mich an ein Gespräch mit ihm während eines gemeinsamen Segelausfluges vor genau einem Jahr.
-- „Wieso willst du da unbedingt runter?“, fragte ich ihn mit Unverständnis. „Ich muss es machen“, antwortete er stirnrunzelnd mit Blick auf den Sonnenuntergang, „ich hab‘ es ihm versprochen“. Dann sah ich das alte Foto in seiner Hand. --
„Zehn Sekunden bis zum Tauchgang!“, ertönte es und mit fischähnlichen Mundbewegungen presste er so viel Luft wie möglich in seine große Lunge. „Zieh am Seil, wenn du unten bist – ich komm‘ dir entgegen!“, rief ich ihm zu und griff das oberste Stück des Seils unter der Boje. Ein letzter Atemzug. Und er tauchte ab, auf der Suche nach seiner Freiheit.
-- „Heute ist sein Geburtstag“, fügte er schwermütig hinzu, während sich der Ozean in seinen Augen spiegelte und als Träne auf das Foto tropfte. „Es war nicht deine Schuld... er hat dir kein Zeichen gegeben“, versuchte ich ihn zu trösten, aber er hörte mich nicht. --
„Tauchzeit drei Minuten!“, rief der Schiedsrichter. „Zieh endlich an dem scheiß Seil, verdammt...“, murmelte ich und griff es so fest ich konnte. Dann sah ich zu seiner Frau und seiner Tochter rüber, die auf einem kleinen Kutter standen. Sie hielten ein Plakat in der Hand, auf dem stand: „100 Meter – für unseren Sohn und Bruder“.
Jetzt wusste ich, dass das Seil für immer still bleiben würde.