Veröffentlicht: 09.09.2019. Rubrik: Menschliches
Ich dich nicht
(Anmerkung am Rande/Anfang: Einige Teile der folgenden Handlung spielen rückwärts.. Enjoy!)
Silvester 2013
00:00
Lärm. Geschrei. Gelächter.
Doch keiner beachtete ihn, als er mit einem letzten Knall des Feuerwerks verschwand.
23:59 (eine Minute davor)
Er keucht vor Anstrengung und zieht sich mit letzter Kraft an dem Felsen hoch.
Wie oft er doch schon hier gewesen war.
Er lacht bitter.
Der Wind heult und Regentropfen, kalt und hart wie klitzekleine Eiszapfen, peitschen ihm ins Gesicht. Seine Sicht trübt sich, verschwimmt zu einem schwarzen Strich, ob durch Tränen oder den Regen, vermischt im Sturm seiner Emotionen, Verzweiflung, Angst und glühendes Entsetzen - mittlerweile ist ihm alles egal.
Er geht zitternd mit gewichteten Schultern nach vorne. Er hört die roten Raketen knallen, gedämpft durch das laute Rauschen in seinen Ohren. Wo sind denn die bunten Lichter? Farben, die er nicht mehr kennt, schon längst vergessen.
Er sieht nicht, keiner sieht ihn.
Er hört nur zu.
Spring! Spring! Es ist jetzt Zeit, all die Leiden sind dann vorbei! Spring! Er schluchzt. Er hätte doch noch so viel machen können. Er will doch noch ein Auto und ein Haus mit Garten besitzen, seine Kinder und Kindeskinder, die alle noch nicht einmal auf der Welt sind, aufwachsen sehen und will doch noch die Frau seines Lebens heiraten, und das Glück kennen lernen, echtes und doch kein unechtes, wie es jetzt ist, und all das wäre doch niemals so gekommen, wenn doch nur –
Er stockt und blinzelt verwirrt. Etwas hat ihn geblendet. Er streicht sich die triefenden Haare aus dem Gesicht und starrt in die Dunkelheit. Hungrig, lechzend, erwartungsvoll. In der Ferne, fast verschwommen, tänzeln Lichtstrahlen anmutig um einander herum und werfen lange Lichtschatten auf das endlose schwarze Meer.
Zögerlich taumelt er einen Schritt nach vorne, seine kreideblassen Hände gierig ausgestreckt, hoffend, dass das strahlende Licht das unendliche Loch in sich endlich ausfüllen könne, und noch einen und noch einen und noch einen und noch bevor er es versah fiel er ins Leere.
02.Januar 2011 (beinahe 3 Jahre zuvor)
„Ja."
Er hätte niemals gedacht, dass so ein kleines Wort so viele Gefühle in ihm Auslösen könnten. Alle Geräusche um ihn herum verstummten und er hörte, spürte, fühlte nur, wie schnell sein eigener Herzschlag gegen seinen Brustkorb hämmerte. Er schluckte. Wie gelähmt stand er auf, nicht sicher ob ihn seine wackligen Beine halten würden, und nahm zitternd den funkelnden Ring aus dem edlen Gehäuse. Sie schaute ihn an. Eine Träne rollte ihre Wange hinunter. Er strich sie sanft beiseite und nahm ihre Hand. So schön. Wunderschön. Ergriffen ließ er den Ring über ihren Finger gleiten und blickte danach hoch in ihre warmen bernsteinfarbenen Augen. Sie stieß einen erstickten Laut aus und ihr Blick flackerte von Seite zu Seite. „I-ich-", stammelte sie stockend, doch er unterbrach sie mit einem zärtlichen Kuss.
„Ich liebe dich", wisperte er.
Sie schloss die Augen.
„Ich dich auch".
23:46 (23 Minuten davor)
Er rennt los.
Mörder.
Seine Beinmuskeln brennen während er Schritt für Schritt den Berg erklimmt. Sein Atem geht nur stoßweise, als er durch das tiefe nasse Laub watet. Plötzlich bleibt er stehen. Er schaut sich hektisch um.
Wo bin ich?
Er war diesen Weg doch schon zigmal gelaufen und doch erscheint ihm die Umgebung in der Dunkelheit so fremd.
Energisch schlägt er den Brombeerstrauch zur Seite. Seine Hände und sein nackter Oberkörper sind zerkratzt und blutüberströmt, doch er spürt diesen Schmerz nicht. Das einzige, was seine Nerven zerfrisst ist das andauernde bohrende Stechen in seinem Kopf.
Mörder.
Er stolpert über eine Wurzel und fällt wie ein plumper Sack voller Kartoffeln zu Boden. Er brüllt auf. Seinem gequälten Aufschrei antwortet nur die teilnahmslose Stille des Waldes.
Mörder.
Sein Körper bebt, sein Verstand kapituliert. Ein Teil von ihm will einfach nur hier liegen bleiben, im weichen Moosbett, geborgen und geschützt vor der Kälte, vor sich selbst, doch er rappelt sich stöhnend auf. Weiter!
Er weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, Sekunden, Minuten, gar Stunden, als er schließlich an einer breiten Lichtung ankommt. Hier ist es! Schleppend geht er auf den dunklen Umriss am Rande zu.
Er keucht vor Anstrengung und zieht sich mit letzter Kraft an dem Felsen hoch.
25. März 2011 (beinahe 2 Jahre und 9 Monate zuvor)
„Ich dich auch".
Die Worte echoten auch jetzt noch in ihrem Kopf herum. Das hatte sie gesagt.
Sie schaute traurig aus dem Fenster. Sie hatte sich zu schnell entschieden.
Es war ein perfekter Tag gewesen, wirklich.
Er hatte sich so viel Mühe gegeben,
der Garten, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten, 4 Jahre zuvor,
die ersten Blumen, die stärksten und standhaftesten von ihnen, deren Knospen neugierig ihre Köpfe aus der gefrorenen Erde hoben, an deren süßlichen Duft sie sich jetzt auch noch erinnern konnte,
an dem einzigen Sonnentag seit Wochen, die schneeweißen Tage längst vergessen,
und dann er mit so einem großenStrahlen auf seinem Gesicht, das nicht mal die Sonne übertroffen konnte, deren Wärme ihren Körper empfing und aus den kalten Klauen des Winters befreite,
als er sie durch das von Efeu überwachsene Tor führte und schon da wusste sie auch was passieren würde und sie fürchtete sich davor.
23:44 (25 Minuten davor)
Sie ist tot.
Wimmernd rollt er sich zusammen.
Er schreit auf.
Mörder. Mörder. Mörder.
Sein Kopf droht zu zerbersten. Er hustet krampfhaft.
Mörder.
Er rappelt sich schlotternd auf.
Luft. Ich brauche Luft! Kann nicht atmen.
Mörder.
Atmen.
Mörder.
Luft.
Mörder.
Er rennt los.
Mörder.
02. Januar 2011 (Flashback)
Sie schaute ihn an.
Eine Träne rollte ihre Wange hinunter. Er strich sie sanft beiseite und nahm ihre Hand. So schön. Wunderschön. Ergriffen ließ er den Ring über ihren Finger gleiten und sie blickte in seine glückstrunkenen Augen.
Ein Gefühl von tiefem Bedauern durchfuhr sie.
Das konnte sie ihm nicht antun.
I-ich-", stammelte sie stockend doch er unterbrach sie mit einem zärtlichen Kuss.
„Ich liebe dich", wisperte er.
Sie schloss gequält die Augen.
23:27 (42 Minuten davor)
Er schlägt die Augen auf.
Orientierungslos blickt er um sich.
Schwarz.
Er tastet sich langsam durch die Dunkelheit.
Ein Bett. Er liegt auf seinem Bett.
Plötzlich wird es hell. Er kneift die Augen angestrengt zusammen.
Weiß.
Sein Kopf dröhnte. Er hatte gestern wohl definitiv zu viel getrunken.
Was ist passiert?
Eine Person trat ins Zimmer. Seine Frau. Sie schaut ihn aufmerksam an.
„Wie geht es dir?".
Er antwortete nicht.
Sie atmet tief ein. Ein kühler Windstoß weht durch den Raum. Vorsichtig macht sie einen Schritt auf ihn zu.
Er wundert sich. Sie verhält sich irgendwie...seltsam. Als ob sie einen Fremden zum ersten Mal treffen würde, als ob sie Angst vor ihm hätte, als ob sie -
Er erstarrt.
Als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sieht, bleibt sie stehen.
Er erinnert sich. Langsam steht er auf, mit einem gefährlichen Funkeln in seinen Augen.
Sie fängt an zu zittern. „Hey, ehm, das gestern... das war gefährlich! Ich habe mir Sorgen gemacht, ich... wusste nicht wo du steckst... niemand wusste es! I-ich weiß es ist schwer, und es tut mir wirklich Leid, aber bitte, lass uns noch mal darüber reden!"
Er erinnert sich. An das Gespräch am Tag davor.
Ein unkontrollierbarer Hass blitzte durch seine Adern.
Reden. Sie hatte schon viel zu viel geredet.
Er stand nun völlig auf und knurrte.
Sie schnappt erschrocken nach Luft und läuft panisch los, immer schneller, und er, er rennt ihr hinterher.
Da, nach hinten durch den langen Gang, der davor nicht da gewesen war, und sie rennt so schnell wie sie kann, spürt wie das Adrenalin durch ihren Körper pumpt, sie riskiert es nicht, nach hinten zu blicken, und doch hört sie die schweren Schritte hinter sich immer näher kommen.
Ihre Gedanken rasen. Eine Waffe! Ich brauch eine Waffe!
Und wie aus dem nichts erscheint ein stählernes Messer, sie ergreift es und mit Schwung dreht sie sich und rammt es ihm in das Herz,
und verfehlt.
Eiserne Fesseln wickeln sich um ihren Brustkorb, bis dieser zu zerbrechen droht.
Er packt ihr Handgelenk.
Sie stößt einen schmerzhaften Schrei aus.
Das Messer fällt klackernd zu Boden.
Und er schaute sie an.
Seine wie durch Wahnsinn aufgerissenen Augen, schrien sie lautlos an, flehten sie an, ihm Antwort zu geben.
Eine Frage nur.
Sein ganzer Körper schien beinahe zu explodieren unter dem enormen Druck.
Eine einzige Frage.
Und sie sagte nichts. Stumm erwiderte sie seinen Blick, ganz ruhig, beinahe gelassen als ob sie wüsste, dass sie verloren hatte.
Da wurde ihm kalt, eiskalt, und das Blut befleckt den weißen Marmorboden, und er konnte nicht aufhören, nein, immer wieder, blind vor wütendem Zorn, stach er auf sie ein, wie im Totenrausch, sein Körper schüttelt sich, und Tränen strömen herab.
Nein, nein, nein, nein.
Und immer wieder bis sie liegt – und er steht– sie am Boden – und er mit roten Händen, und er starrt sie – auf dem nicht mehr weißen Boden - an und weiß plötzlich voller Grauen, was er getan hatte.
Sie ist tot.
29. Dezember 2013 (Zwei Tage zuvor)
In 2 Tagen ist unser 3. Jahrestag.
Und ich ertrage es einfach nicht mehr.
Unser Leben, seine Liebe, meine Lügen-
Ich habe es so lange unterdrückt, mir eingeredet ich bilde es mir ein, habe ihm etwas versprochen, dass ich nicht geben kann, so oft seine drei Worte erwidert, dass sie für mich schon längst keine Bedeutung mehr haben.
Ich habe ihn geküsst, seine trockenen Lippen mit meinen vereint,
und an die eines anderen denken müssen und dabei innerlich geweint.
Ich kann nicht aufhören zu denken, kann nicht von den Gedanken ablassen
und letztendlich habe ich gelernt, mich selbst dafür zu hassen.
Und das tue ich vollen Herzens, ich hasse mein eigenes Herz.
Warum kannst du nicht einfach den lieben, den es zu lieben gehört?
Und ich werde dein Herz brechen, ich weiß es und es tut mir Leid.
Aber ich halt es nicht mehr aus, mit dir und mir zu zweit.
Dieses 'wir' wovon du sprichst,
schon längst verinnerlicht,
ist nur eine Illusion, das gibt's in Wahrheit nicht.
Ich liebe dich nicht mehr. Ich habe dich noch nie geliebt. Hörst du?
"Ich liebe dich."
Ich dich nicht.