Veröffentlicht: 21.01.2020. Rubrik: Fantastisches
Spiegelwelt
Professor Doktor Honorius Liebig warf einen letzten Blick in den Spiegel. „Weißt Du wirklich ob das richtig ist, was du heute tun wirst?“ Er stellte sich diese Frage jeden morgen. Mittlerweile war sie zu einer rhetorischen Farce verkommen, doch er hielt an diesem Ritual fest. Seine Frau Valeria hatte ihn verlassen, weil er mit seinem Projekt zu sehr beschäftigt war, um zu bemerken wie sie sich auseinanderlebten. Erst als sie ging bemerkte er den Verlust und die Unterstützung, die sie ihm gewesen war. Seit diesem Zeitpunkt vor drei Jahren stellte er sich jeden morgen vor dem Spiegel diese Frage. Natürlich konnte sein Spiegelbild ihm keine Antwort geben. Lautlos wiederholte es nur die Bewegungen getreu seinem Original.
In seinem Labor angekommen, startete Honorius seine Gerätschaften. Wie immer hatte er früher als seine Assistenten mit der Arbeit begonnen. Mit seinen Forschungen berührte er die Grundfeste der Welt. Seine Arbeit war nicht ungefährlich aber wie alle großen Entdeckungen sollte sie zum Wohle der Menschheit sein. Und schließlich hatte er seinen Preis ja schon bezahlt.
Heute wollte er einen entscheidenden Testlauf seiner Theorie wagen. In dem kilometerlangen Teilchenbeschleuniger sollten zwei Isotope aufeinanderprallen und für einen winzigen Augenblick eine Singularität erzeugen, um dann wieder zu zerfallen. Dies war eigentlich nichts Besonderes. In der Theorie.
Im Laufe des Tages spielten sein Team und er das kommende Ereignis in unzähligen Simulationen durch. Dann am späten Abend als nur noch eine kleine Gruppe übriggeblieben war, starteten sie die Apparaturen und wagten das Experiment.
Vor der Versuchskammer erschien ein klares, rundes Abbild des Labors, das alle Gegebenheiten deutlich spiegelte. Honoris stand von seinen Monitoren auf, ging auf dieses Bild zu. Seine Leute starrten immer noch auf die Erscheinung. Als Honorius auf das entstandene Feld zuging, bemerkte er, dass weder er noch seine Leute auf dem Abbild zu sehen waren. Nur das Labor wurde in jeder Einzelheit wiedergegeben. Dann ging er ein wenig zur Seite, um hinter das Bild zu sehen, doch anscheinend bewegte sich das Bild mit. „Das ist kein Bild, sondern eine Blase!“ wisperte er. Eilends umrundete er die Erscheinung und kam wieder zu dem Ausgangspunkt zurück. Vorsichtig streckte er die Hand aus, um dem Bild ganz nahe zu kommen. Ein leichtes Ziehen an den Fingerspitzen deutete auf die Existenz des Feldes hin. Er sah sich um. Seine Leute starrten immer noch beinahe regungslos herüber. Er blickte wieder auf die scheinbare Kugel. Ganz vorsichtig tippte er auf die Oberfläche. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Sonst passierte nichts. Plötzlich fing die Kugel an zu flackern. Erschrocken zog er die Hand zurück und ging einige Schritte zurück. Ein Wabern setzte ein und die Kugel fing an zu schrumpfen. Doch kurz bevor die Kugel in die Versuchskammer verschwand, konnte er sehen wie in dem gespiegelten Labor eine Person erschien. Seine eigene.
Stundenlang hatte sie alle Werte verglichen, ihre Eindrücke geschildert und die Aufzeichnungen durchlaufen lassen. Nichts von all dem hätte passieren dürfen. Keine vernünftige Erklärung, die mit Gleichungen belegbar wäre, ergab einen Sinn. In den frühen Morgenstunden trennten sie sich und Honorius fuhr mit seinem Wagen zurück zu seiner Wohnung. Müde und aufgewühlt ging er, nachdem er seinen Mantel abgelegt hatte in das Bad. Er schaute in den Spiegel. Wieder liefen die unglaublichen Augenblicke in seinem Labor vor ihm ab. Abgespannt fuhr er sich mit der rechten Hand über sein Gesicht. Sein Spiegelbild tat es ihm gleich. Fast! Er erstarrte. Sein Spiegelbild hatte ebenfalls die rechte Hand am Gesicht. Das Bild, in das er blickte, war nicht spiegel-verkehrt! Das konnte unmöglich sein. Irritiert und verunsichert blickte er auf den Hintergrund im Spiegel. Links von ihm waren das Bad und die Armaturen zu sehen und rechts waren der Eingang und die halb geöffnete Tür zu sehen. Hastig drehte er sich um. Aus den Augenwickeln sah er wie sein Spiegelbild sich andersherum drehte. Wie er es im Spiegel gesehen hatte waren links das Bad und die Armaturen und rechts die halb geöffnete Badezimmertür. Sein Herz fing an zu pochen. Mit einem leichten Zittern drehte er sich wieder zurück. In dem Spiegel vollführte sein Abbild die Umdrehung andersherum. Er musste sich am Waschbecken festhalten. Seine Gedanken überschlugen sich während er in das unmögliche Bild vor ihm starrte. Dann sah er wie eine Hand langsam die Badezimmertür weiter aufschob.
„Honorius, Honorius. Du warst wieder bis in die Morgenstunden in deinem Labor. So kann es nicht weitergehen mein Lieber.“
Ihm stockte der Atem. Diese Stimme gehörte zu Valeria seiner Frau. Langsam drehte er sich um. Er traute seinen Augen kaum, dort stand sie. Im Badmantel und noch verschlafen von der vergangenen Nacht. Wie in seinen Erinnerungen. Vorsichtig streckte er die Hand aus, als ob sie ein Traum wäre, der sich bei der kleinsten Berührung verflüchtigte. Seine Hand schmiegte sich sanft an ihre Wange. „Valeria, bitte bleibe bei mir.“ „Natürlich bleibe ich, mein Lieber, wo sollte ich den hingehen?“
Behutsam zog er sie zu sich, gleich etwas Zerbrechlichem, unermesslich Wertvollem. Bevor er mit seiner Frau das Zimmer verließ, blickte er ein weiteres Mal in den Spiegel. Sein Abbild lächelte zurück und verließ in entgegengesetzter Richtung zu ihm das Zimmer.
Es war nicht seine Welt, gewiss nicht, aber es war sein Zuhause.