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geschrieben 2021 von Mike P. Muzak (Muzak).
Veröffentlicht: 17.10.2021. Rubrik: Nachdenkliches


Die altehrwürdige Leselupe mit an Bord?

Die altehrwürdige Leselupe mit an Bord? (Eine Kurzgeschichte vom 16.10.21)

»Meine Süße«, ja, so nannte mich einst meine etwas rundliche Grandma, wenn sie in ihrem eigenen Sessel saß und mir ein ihr bekanntes Märchen aus einem vergilbten Buch vorlas. Längst mit ihrer Leselupe. Die gehörte Grandpa! Der war aber fort auf einer weiten Reise, sagte meine Mum, so wie in den Geschichten, die ja immer gut endeten. »Ach, mein leichtsinniger Marvin!«, schimpfte Grandma, wenn sie von ihm und seinem Flugzeug erzählte.

Einige Jahre später bekamen wir ein Brüderchen, der wie Dad hieß, und plötzlich rief mich Grandma nur noch »Amely, lass das!«, während sie zu unserem kleinen Scheißer immer lächelnd »Mein Süßer!« flüsterte. Mir las sie dann keine Märchen mehr vor, dafür sei ich ja zu alt geworden, aber die Leselupe durfte ich ihnen immer bringen und putzen. Ich sah dabei zum Fenster hinaus, um das Flugzeug zu beobachten, das mit allen möglichen Sprühmitteln über unsere weiten Felder flog. Mein Dad machte das immer selbst so wie früher auch Grandpa. Wie das Fliegen über den Michigansee wohl sein würde, rätselte ich damals, als er mir das Schießen mit dem Gewehr doch noch beibrachte.

Über die Jahre hinweg wurde mein jüngerer Bruder groß und stark. Irgendeine gesunde Frau aus einer auserwählten Familie fand er, der »Marvin der Dritte« in unserem großen Haus. Er musste ja alles übernehmen. Glasklar war das! Möglichst bald, denn Mum und Dad fraß die Arbeit langsam auf. Und für mich sei das eben nichts, so als Mädchen. Etwas mit Kranken oder besser Lehrerin! Das hat ja auch etwas mit unserer Nationalflagge zu tun, irgendwie. Also musste ich noch mehr lesen. Wenn meine Augen müde wären, würde mir Grandma bestimmt immer ihre Leselupe leihen, meinten alle. Schule sei heutzutage wichtig, erst recht für die Mädchen.

Für mich würden sie auch sicher noch einen passenden Farmer finden, hieß es später am Grab meiner Grandma, wo mein Grandpa auch schon lange Zeit ruhte. Es sei ein Flugunfall im überraschenden Sturm gewesen, erfuhr ich sogar. Meine Mum hatte davor immer Angst und mein Dad war grundsätzlich dagegen, dass Frauen fliegen. Alt wurden sie mit diesen Einstellungen und noch anderen. So rundum arbeitsfähig, das blieben sie allerdings nicht allzu lange. Marvin der Vierte erhielt eines Tages Grandmas Ehrentitel »Mein Süßer!«, doch niemand las ihm mehr aus einem Buch etwas Fantastisches mit friedlichem Ausgang vor. »Wozu auch?!«, hieß es, »Die Wirklichkeit des Mannes sieht ja anders aus!« Er müsse ja selbstverständlich ein richtiger Mann, ein Farmer, werden.

Und da lernte mein selbst ernannter Vaterersatz später, als ich längst von diesem Zuhause fort war, einen netten Farmer kennen, der noch eine Frau suchte. Meine lange und teure Ausbildung sei ja nichts für mich. Ich solle doch nach Hause kommen. Das Geld reiche für alle. Arbeiten müsste ich dann nicht. Es gäbe dort genügend Angestellte. Und einen jüngeren Bruder, der auf der Farm fleißig mitarbeite, den gäbe es auch noch. Heiraten würde er bestimmt bald, so dass er einziehen werde. Auf diese Weise wachse die Familie wie die Felder und deren Ernte. Ja, mein Schwager, der sei auch ein ganzer Kerl! Mit diesen Worten hörte ich sein Lachen.

Das alles stand vor wenigen Jahren in einem Brief und, dass Grandmas Leselupe auf dem Bücherregal neben dem Kamin im Haus seines Freundes ebenfalls auf mich warten würde. Und in dem heutigen mit ein paar beiliegenden Fotos von dem neuen Heim schreibt er, dass der Bruder meines sehnsüchtig wartenden Bräutigams inzwischen mit seiner Ehefrau auch auf der gemeinsamen Farm lebe. Ja, sie alle würden sich riesig freuen, wenn ich endlich wieder heimkehren wollte. Ein noch kleines Mädchen hätten sie bekommen, dem ich jeden Abend Märchen vorlesen könnte. Das sei wirklich so wertvoll für die Zukunft eines Mädchens. Das Lesen! Und das wüsste doch jeder! Immerhin sei ich dann auch endlich Tante, eine gebildete. Zähle das denn heute gar nichts mehr, fragt er mich zum Schluss. -

Mit einem zufriedenen Lächeln zum Einschlafen hätte sich diese Kurzgeschichte vielleicht die ehemalige Marinefliegerin Frau Amy Bauernschmidt aus Milwaukee in Wisconsin frei ausgedacht, ein paar Tage bevor sie am 19. August 2021 als erste Frau das Kommando über einen amerikanischen, nuklearen Flugzeugträger übernehmen durfte – über die »USS Abraham Lincoln« - und natürlich, wenn sie die Leselupe ihrer Großmutter bereits geerbt und als Erinnerung mit an Bord hätte. Hat sie das?

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