Veröffentlicht: 27.02.2019. Rubrik: Menschliches
Die Nacht, in der keine Ausgangssperre herrscht
Die Schlange vor der Tür ist schier endlos lang. Ich stelle mich hinten an und ziehe mein Smartphone aus der Tasche. Bis ich drin bin, ist es bestimmt schon Mitternacht. ‚Warum wollte ich nochmal hierher?‘, denke ich. Um mir selbst zu antworten, deute ich einige Tanzschritte an. Vor mir stehen einige junge Frauen in engen Cocktailkleidern. Keine von ihnen sieht gut aus. Außerdem kichern sie ständig mit immens hohen Stimmen. Wenn das so weitergeht, habe ich schon Kopfschmerzen, bevor ich den Club auch nur betreten habe. Ein Auto fährt vor und zwei Männer in dunklen Anzügen springen heraus. Sie helfen einer Frau aus dem Auto, die offensichtlich mit irgendeiner Droge vollgepumpt wurde. Schlaff hängt sie ihnen in den Armen und atmet ab und an mal flach. So etwas sieht man hier oft. Jeder in der Schlange hat sich schon wieder abgewandt. Man ist nicht hier, weil man an einer ehrbaren Location etwas Zeit verbringen möchte. Oh nein! Man ist hier, um die einzige Nacht zu feiern, in der keine Ausgangssperre herrscht. Die Frau stammt vermutlich aus einem der nahen Gefängnisse und wird als Strafe gezwungen, sich hier im Hinterzimmer für irgendeinen Perversling auszuziehen. Angewidert verziehe ich das Gesicht. Wie kann so etwas nur ansatzweise geil finden? Verbrauchte Menschen sieht man doch jeden Tag zu Hause. Warum muss man sich auch noch in den Clubs mit ihnen beschäftigen? Die Frau wird den Abend vermutlich nicht überleben. Als Dank wird ihr jemand den goldenen Schuss setzen und sie wird in den Hinterhof geworfen, wo sie Teil der ungesunden Natur dieses Ortes wird. Der Himmel über meinem Kopf ist rauchgeschwängert und die zahlreichen Abgaswolken färben sich im Licht der untergehenden Sonne rot. Wie gerne wäre ich jetzt an einem anderen Ort, aber das ist nicht möglich. Jeder, der sich der Stadtgrenze auch nur nähert, wird erschossen oder ins Gefängnis geworfen. Die einzige Abwechslung ist einer dieser Clubs. Dieser hier ist der Tödlichste. Vielleicht hoffe ich ja auch ein wenig darauf, heute Abend eine verkeimte Spritze in den Arm zu bekommen oder von jemandem in Ekstase erschlagen zu werden. Oh nein, ich würde mich nicht wegducken!
Hinter mir haben sich inzwischen weitere Leute angestellt. Unter ihnen befindet sich eine Frau, die mir gefällt. Sie trägt ein enges Hemd und Hotpants, hat ein weiches Gesicht und lächelt. Es ist das erste Lächeln, welches ich in diesem Monat sehe. Meine depressive Schwester liegt immer mit verquollenen Augen unter den Boilern der Häuser und repariert sie zähneknirschend. Nachts weint sie sich dann in den Schlaf, nur, um am nächsten Morgen erneut zu erwachen und der gleichen Arbeit nachzugehen, die gleichen Häuser zu besuchen, da sie kaum noch in der Lage ist, anständige Reparaturen durchzuführen. Solche Menschen werden an den Eingängen der Clubs immer gleich aussortiert. Über jeden Bezirksbewohner wird genau Buch geführt und solche Leute wie meine Schwester haben daher immer Ausgangssperre, wenn sie nicht gerade arbeiten. Die Frau hinter mir jedoch sieht erstaunlich unverbraucht aus. Sie trägt vor allem keinerlei Make-Up. Ist sie vielleicht aus einem der besseren Stadtteile hierhergekommen? Warum tut sie so etwas? Ärger kann sie dort auch genug haben. Außerdem stirbt man dort eher an Designerdrogen als an dem Abfall, den es hier so gibt. Sie fährt sich mit einer schmucklosen Hand durch die langen dunkelbraunen Haare und grinst mir dabei zu. Anscheinend hat sie meinen bewundernden Blick doch eher bemerkt, als ich das gewollt habe. Rasch gucke ich nach vorne, aber sie kommt auf mich zu und tippt mir auf die Schulter. „Hallo“, sagt sie mit einer Stimme, die nicht viel mehr ist als ein Flüstern. „Hallo“, erwidere ich unsicher. „Wenn du mich schon so ungeniert anstarrst, könntest du zumindest den Anstand haben, dich vorzustellen.“ „Ich bbbin…Erik“, sage ich stotternd. Die unbekannte Schönheit lacht. Woher sie diese echte Freude nimmt, würde ich wirklich gerne wissen. „Ich bin Alissa. Bist du alleine hier?“ Ich nicke, um nicht doch wieder loszustottern. Prompt stellt sie sich neben mich. „Und ich dachte, ich wäre die einzige hier“, fährt sie fort und stößt mich freundschaftlich in die Seite. Ihre Anwesenheit verunsichert mich sehr. Fantasiere ich vielleicht gerade? Dabei habe ich doch eigentlich gar keine Drogen genommen. Noch haben sie mich nicht soweit, dass ich endgültig in meine Traumrealität abdrifte. Das Konsumieren von Drogen ist immerhin noch freiwillig. Die Betonung liegt auf: noch. Wer weiß, was sich die Obrigkeit morgen für einen Schwachsinn überlegt.
„Ich habe dich hier noch nie gesehen!“, sage ich zu Alissa. „Oh, ich bin auch zum ersten Mal hier. Ich verlasse meinen Wohnkomplex normalerweise nicht, aber ich wollte mal wieder neue Leute kennenlernen und habe wahrscheinlich gleich einen Volltreffer gelandet.“ „Na, ob ich ein Volltreffer bin, wage ich mal zu bezweifeln.“ Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. Eigentlich ist Körperkontakt außerhalb der Clubs verboten, aber sie scheint sich nicht daran zu stören. „Schau dir mal die Leute an“, sagt sie wieder mit diesem Hauchen in der Stimme. Mein Blick wandert die schier endlose Schlange der Wartenden vor uns ab. Im Grunde ist alles wie immer. Viele Leute zittern aufgrund von Entzugserscheinungen und andere tanzen bereits jetzt zu einer Musik, die nur sie hören können. Einige ganz wenige unterhalten sich miteinander. „Und, fällt dir etwas auf?“, fragt sie. „Es ist doch alles wie immer!“ „Das ist der Punkt, mein Freund. Wie viele Leute in dieser Schlange sind high oder gerade high gewesen?“ „Etwa 95 Prozent?“ „Genau und der Rest ist zumindest nicht alleine hier. Aber du bist eine Ausnahme. Du bist die Anomalie in dieser Schlange. Diese Tatsache macht dich interessant. Im Grunde bist du so wie ich. Du hast die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Allerdings scheinst du dir deine gute Laune nicht bewahrt zu haben.“ „Hast du etwa noch keine Familienteile oder Freunde an die Drogen oder an den Tod verloren?“ „Oh doch! Aber diese Leute sind eben nicht mehr richtig unter den Lebenden. Niemand interessiert sich für sie und solange sie der unnützen Arbeit nachgehen, die das Unvermeidliche doch nur immer weiter hinauszögert, werden sie vom System nicht weiter beachtet. Aber du und ich…wir sind anders, verstehst du?“ Ich nicke. Noch einmal wandert mein Blick an der Schlange entlang. Zwischen den Wartenden liegen einige Leute, die entweder bewusstlos oder bereits tot sind. Aber niemanden interessiert das. Es hat ohnehin fast niemand das Knowhow, wirklich zu helfen. Und die, die es können, haben meistens ihre eigenen Probleme. Man steht sich eben doch selbst am nächsten.
Alissa sieht mich interessiert an und beobachtet mich beim Denken. „Glaubst du mir?“, fragt sie. Ich nicke. „Das freut mich. Wie ist denn diese Location so?“ „Ein Drecksloch wie jeder andere Club in dieser gottverdammten Stadt.“ Sie lacht. „Du scheinst noch aus einer anderen Zeit zu kommen, oder? So ein Wort wie „gottverdammt“ habe ich ja schon lange nicht mehr gehört.“ „So alt bin ich noch nicht“, erwidere ich. „Ist doch keine Schande, alt zu sein. Aber bei dir ist das tatsächlich etwas anderes.“ „Wenn du doch schon alles über mich weißt, wieso stellst du dann diese Fragen?“ Alissa lächelt nur geheimnisvoll. „Hast du Lust, heute Nacht eine Runde mit mir zu tanzen?“, fragt sie, anstatt auf meinen fragenden Blick einzugehen. Ich nicke. Wie schon so oft heute Abend. Wer könnte bei solch einer schönen Frau nein sagen? Alissa nimmt die Hand wieder von meiner Schulter und stellt sich neben mich. Ich wende mich um. Die Schlange hinter uns ist noch viel länger geworden. Im Grunde bietet sich jedoch das gleiche trostlose Bild wie vor uns. „Es ist wirklich erstaunlich, dass sich noch eine anständige Schlange formen lässt, wenn doch alle so kaputt sind!“, meine ich. „Das ist menschliches Instinktverhalten. Niedere Instinkte verkümmern selbst bei Rauschmittelkonsum nicht so schnell. Irgendwann muss den Menschen mal das „Schlange stehen-Gen“ eingesetzt worden sein.“ „Was würde denn passieren, wenn wir jetzt einfach an der Schlange vorbeilaufen würden?“ „Vermutlich würden sie sich alle auf dich stürzen und dich in Fetzen reißen, da viele dich nicht mehr vollmeckern können. Jedenfalls werden sie es nicht teilnahmslos hinnehmen. Soll ich es dir zeigen?“ Ich nicke trotz einer unguten Vorahnung. „Hey du!“, sagt Alissa zu einem der Mädchen im Cocktailkleid. „Ja“, erwidert sie mit einer Stimme, die besonders von übermäßigem Alkoholkonsum tönt. „Wenn ich dir zwanzig Taler gebe, könntest du dann meinem Kumpel, der am Anfang der Schlange steht, etwas von mir ausrichten?“ Alissa zieht einige Goldmünzen aus der Tasche und hält sie dem Mädchen unter die Nase. Cocktailkleid riecht kurz daran und nickt dann. Alissa holt einen Zettel aus einer Hosentasche, der definitiv so leer wie die Gedanken von Cocktailkleid ist. Vielleicht steht ja das Wort Geld darauf. Dann könnten die Beiden eine perfekte Symbiose eingehen. Der Zettel wandert nebst Geld in die Hand des Mädchens und sie läuft los.
Ein Raunen geht durch die Menge, als sie losläuft. Zunächst passiert nichts, aber dann treten tatsächlich ein paar zitternde Gestalten auf sie zu. Dazu kommen einige Wesen, die eben noch friedlich getanzt haben. Sie packen das Cocktailkleid der Frau und reißen es hinunter. „Sie ist tatsächlich nicht hübsch“, sage ich und Alissa schnaubt vor Lachen. Dann strecken sich gierige Finger nach ihrer bloßen Haut auf und ritzen sie auf. Die Meute fällt über sie her, als wäre sie ein Reh, das von Wölfen gejagt wird. Mit solch einer Aggressivität hätte ich wirklich nicht gerechnet. Die Frau schreit nicht einmal. Sie wendet sich auch nicht mehr um. Als ihr lebloser Körper zu Boden fällt, traben die Wölfe in die Schlange zurück und tun so, als sei nie irgendetwas passiert. Der Körper der Frau liegt blutüberströmt einige Meter vor uns. Aber niemand interessiert sich dafür. Sie ist nur ein weiteres Stück Abfall in dieser Stadt. „Damit wäre meine These ja dann wohl erwiesen“, sagt Alissa und sieht mich an. „Ich muss sagen, dass ich mit so einem rabiaten Verhalten nicht gerechnet habe“, erwidere ich kühl. Der Tod dieser Frau macht mir nichts aus. Sie war es auch eigentlich vorher schon, sowie die tausend anderen, die hier herumstehen und Einlass begehren. Alissa sieht auf ihre Uhr. „In wenigen Minuten müsste das Eingangsportal aufgehen und wir können endlich tanzen.“ Sie lächelt mir voller Vorfreude zu. Ich lächle zurück und bin mir ziemlich sicher, dass wir nicht nur die einzigen Menschen hier in der Schlange sondern in der ganzen Stadt sind, die das tun. Als einzige freuen wir uns auf den Abend, den wir nicht in unseren eigenen vier Wänden verbringen müssen und unsere halbtoten Verwandten anstarren müssen.
„Wäre das eigentlich auch passiert, wenn sie mit den Leuten in irgendeiner Form von Beziehung gestanden hätte?“, frage ich und deute nochmals auf das tote Mädchen im Cocktailkleid. Alissa streicht sich erneut ihre dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht. „Ja, ich denke schon. Ich glaube auch, dass Cocktailkleid vielen Leuten hier in der Schlange mal ein Begriff gewesen ist. Sie war mal Covergirl auf einem dieser Erotikmagazine.“ „Habe ich nie gelesen“, behaupte ich und sie grinst. „Da bist du hier aber bestimmt in der Unterzahl. Kaum einer hat doch noch eine einigermaßen attraktive Frau zu Hause sitzen, die nicht schon schwer depressiv oder von Drogen zerfressen ist. Daher brauchen viele Leute so eine Zeitschrift, um sich weiterhin der Utopie hingeben zu können, dass es eine Art Paradies gibt, wo viele Frauen und Männer dieser Art herumlaufen. Aber, wie ich ja eben schon meinte, stehen auch diese Leute hier schwer alkoholisiert in der Schlange und warten auf den Einlass. Also muss man sich der Illusion gar nicht erst hingeben.“ „Und, was ist mit dir?“, frage ich. „Wieso, ich bin doch auch von hier. Aber ich bin wie du. Nicht wie sie. Ich brauche keine Erotikmagazine, um mir eine bessere Welt vorstellen zu können. Auch du brauchst das nicht. Vielleicht haben wir uns ja deswegen hier getroffen.“ Sie gibt mir einen kurzen Kuss auf die Wange. Ich erröte. „Das braucht dir nicht peinlich zu sein“, sagt sie lächelnd. „Es interessiert sich doch sowieso keiner für dich, solange du nicht wider dem Schwarmverhalten handelst.“ Sie küsst mich nochmal und diesmal auf den Mund. Sie scheint Recht zu haben. Niemand ist hier, den das interessiert, außer uns natürlich. Ich ziehe noch einmal mein Smartphone aus der Tasche. Das Eingangsportal wird geöffnet und die Schlange verkürzt sich zusehends. Alle verschwinden sie im Innern des Clubs. Man ist hier, um die einzige Nacht zu feiern, an der keine Ausgangssperre herrscht. Auch ich werde das tun. Heute habe ich ja auch etwas zu feiern. Alissa und ich treten langsam auf die Tür zu. Ein gelangweilter Türsteher wirft einen kurzen Blick auf uns und winkt uns ins Innere. Lautes Bassgewummer ist zu hören. Erste ekstatisch kreisende Schatten sind an den hohen Wänden auszumachen. Alissa und ich treten auf die Tanzfläche und beginnen damit, die Nacht, in der keine Ausgangssperre herrscht, richtig zu feiern.