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geschrieben 1989 von Jörg HB.
Veröffentlicht: 07.05.2022. Rubrik: Menschliches


Im Jahre der Kometen

Sie hatte gewusst, dass in jenem Jahr – es war 1910 gewesen – etwas passieren würde. Gleich zwei Kometen hatten sie angekündigt. Vor Kometen hatte sie seit ihrer Kindheit große Angst. „Die Schweifsterne bringen Unglück“, hatte ihre Mutter immer gesagt. Sie war überzeugt davon, dass es stimmte. Und dennoch war es ihr wie ein Schlag vor den Kopf vorgekommen, als es dann tatsächlich eingetreten war:

„Rudolf hat nicht die Spur einer Chance gehabt“, hatte ihr der Bergbauingenieur berichtet. „Der Stollen ist einfach über ihm eingestürzt. – War wohl fehlerhafte Abstützung … Wir werden das überprüfen.“ Der Mann hatte noch weitergeredet – von Bedauern, und so weiter –, doch sie hatte davon nichts mehr wahrgenommen. Kaum 20-jährig, war ihr Leben für sie schon zu Ende gewesen. Und dabei hatten sie doch heiraten wollen!

Sie lebte immer noch in demselben Ort. Zu ihren Nachbarn hatte sie so gut wie keinen Kontakt. Es gab auch niemanden, der Kontakt zu ihr suchte. So kam es, dass sie die meiste Zeit mit Lesen verbrachte – eine einsame Person von bald 70 Jahren. Am liebsten las sie in der Zeitung. Ihr Interesse am Weltgeschehen war groß, sofern es sich außerhalb des Dorfes abspielte. Von ihrer allernächsten Umgebung wollte sie hingegen nichts wissen.

Es war Anfang September 1956, als sie es in der Zeitung las. Der kurze Artikel stach ihr sofort ins Auge und erfüllte sie mit einer mystischen Vorahnung. „Das Jahr der Kometen“ lautete die Überschrift. Rasch überflog sie den Text. Schon fünf Kometen hatten die Astronomen in diesem Jahr beobachten können, stand dort. Nun sollte sogar ein sechster kommen. „Crommelin“ hatten sie ihn getauft. Der „Periheldurchgang“ – was immer das auch sein mochte – sollte am 19. Oktober sein.

Sie suchte in ihrer Erinnerung nach Vorkommnissen in diesem Jahr, die so vielen Kometen angemessen waren; doch fand sie keine solchen. Es stand ihr folglich noch bevor. Irgendetwas musste dieses Jahr noch geschehen. Irgendein Unglück, irgendeine Katastrophe. Sie war da ganz sicher.

Dann war es soweit. Zunächst lief alles genauso ab, wie vor 46 Jahren. Ein Ingenieur führte sie zur Förderanlage des Bergwerks. Viel teilte er ihr nicht mit. Sie hatten den im Jahre 1910 eingestürzten Stollen endlich passierbar machen können und dabei etwas gefunden; einen menschlichen Körper. – „Eine Identifizierung“, schoss es ihr durch den Kopf. „Sie wollen, dass ich ihn identifiziere; ihn!“

„Hier ist sie“, sagte der Ingenieur zu einem Mann, der sich ihr daraufhin als der Leiter der Schachtanlage vorstellte.

Was sie nun erfuhr, ließ sie erschaudern. Durch irgendeinen geheimnisvollen Prozess war die Verwesung gestoppt und der Leichnam gewissermaßen konserviert worden. Was es genau war, wussten sie noch nicht. – „Ein Rätsel“, sagte der Mann. Sie gingen los in Richtung der Stelle, wo sie ihn aufgebahrt hatten. Ihr Herz schlug wie wild. Sie würde ihn wiedersehen. Auch wenn sie es sich nur ungern eingestand, so war dies doch ihr größter Wunsch gewesen, all die Jahre. Doch nie hatte sie eine Hoffnung auf Erfüllung gehabt. Bis heute. Sie konnte es kaum fassen. Womit sollte sie sich das verdient haben? Sie galt als mürrisch und unnahbar seit damals. Aber konnte sie etwas dafür? Hatte sie nicht sogar in den ersten Jahren danach versucht, ihn zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen? Es war ihr nicht möglich gewesen.

Und dann lag er da. Dass er es war, erkannte sie sofort; obwohl seine Haut … – sie wirkte wie Leder. Dunkelbraun und ausgetrocknet war sie. Sie musste an einen Artikel aus einer Illustrierten denken, den sie vor einiger Zeit gelesen hatte. Es ging dort um Leichen, die man in Mooren gefunden hatte. Es waren auch Bilder dabei gewesen, die dem glichen, was sie hier sah. Noch im selben Moment schalt sie sich selbst für ihre Gedankengänge. Wie friedvoll er doch dalag. Es war ihr, als spielte um seinen Mund ein Lächeln. Ob er wohl an sie gedacht hatte, in seiner letzten Minute?

„Ist er’s?“ Der Bergwerksleiter sah zu ihr herüber. Die Antwort las er aus ihrem Gesicht …

Auf dem Heimweg erfüllte sie ein lange vermisstes Gefühl unbeschreiblichen Glücks. Ihr Leben war doch nicht umsonst gewesen. Zumindest ihm hatte sie in seinem letzten Augenblick noch etwas geben können. Sie dachte an seinen zufriedenen Gesichtsausdruck. Wie zufällig blickte sie zum Himmel empor. Die Sonne war schon untergegangen. Ein prächtiger Komet stand dort oben, den Schweif gen Osten gerichtet.

„Schweifsterne bringen Unglück“, hatte ihre Mutter gesagt. Heute endlich wusste sie es besser. Noch in derselben Woche verstarb sie.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von Christelle am 09.05.2022:

Spannende Geschichte. Ich kann die Trauer der Frau verstehen, würde deshalb aber nie das ganze Leben verplempern, so wie sie es gemacht hat. Aber sie war zumindest am Ende ihres Lebens glücklich.




geschrieben von Babuschka am 30.09.2023:

Es ist eine sehr traurige Geschichte :'(

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