Veröffentlicht: 04.11.2024. Rubrik: Unsortiert
Die mächtigste Frau der Welt
Sie war in eine heikle Situation geraten.
Vielleicht begann es mit ihrer Vorliebe für Mathematik: Sie konnte sich nicht erklären, wieso manche eine Aversion gegen dieses Fach hatten. Alles, was über die vier Grundrechenarten hinausging, schien für viele ein Buch mit sieben Siegeln zu sein. Dabei fing danach der Spaß doch erst an. Zahlenreihen bildeten vor ihrem inneren Auge dreidimensionale Konstrukte. Nur durch sie ließ sich die Wirklichkeit präzise abbilden oder gar Revolutionäres erschaffen.
Nach ihrem Mathematik- und Physikstudium war sie nach London gezogen, wo sie an der University of theoretical Physics in das Recherche-Team um Dr. Kim Brown aufgenommen worden war. Es war für sie mehr ein intellektuelles Spiel. Welches aber, je mehr man in die Materie eindrang, eine hohe Verantwortung mit sich brachte. Verantwortung für die Ergebnisse ihrer komplexen Berechnungen, die weitreichende Auswirkungen hatten.
Und da stand sie jetzt, die Hand über dem Auslöseknopf schwebend. Alle anderen Sicherheitsschalter waren bereits betätigt worden. Dieser letzte war entscheidend und sie hatte noch nie zuvor einen solch tiefen Zweifel empfunden.
Nach ihrer Tätigkeit als Juniorprofessorin in London wurde ihr die Leitung eines innovativen Forschungsprojektes übertragen. Auf den ersten Blick hatte dies nichts mit ihren eigentlichen Kompetenzen zu tun, ging es doch um Meeresbiologie, genauer gesagt um das Projekt Atlantis –ein wenig origineller, aber treffender Name. Genaues Kalkül stellte der Schlüssel zum Erfolg dieses Projekts dar.
Sie hatte Talent für Abstraktion. Aber konnte sie die realen Konsequenzen ertragen?
Gewiefte Ingenieure hatten mit ihrer Hilfe in Rekordzeit eine gigantische Unterwasserkuppel konstruiert, die sich über den gesamten Pazifik erstreckte. Eine Notwendigkeit, denn der dritte Weltkrieg hatte das Festland quasi unbewohnbar gemacht. Nun hieß es, den Meeresboden zu bevölkern und damit ein submarines, ressourcenschonendes System zu kreieren.
Sobald dieser letzte Knopf betätigt war, würde das Meerwasser aus der Kuppel gesaugt, unaufhaltsam, die Kontinente würden überschwemmt, während nur die zuvor ausgewählten Lebewesen Zuflucht in der neuen Welt fanden.
War das ethisch vertretbar? Wahnsinn? Ihre Berechnungen hatten sie noch nie betrogen, es war die einzige Lösung. Sie drückte auf den Knopf – und der Radiowecker stellte sein Gedudel ein.
Noch im Halbschlaf wurde Paula bewusst, dass sie keine geniale Wissenschaftlerin war, sondern nur eine angehende Mathe-Lehrerin im Referendariat. Dennoch – ihre heutige Mission war von äußerster Wichtigkeit. Sie war in der 10. Woche und nachher hatte sie einen Termin bei der Beratungsstelle. Dort würden sich ihre Zweifel hoffentlich in Luft auflösen.
1+1=3 kam es ihr in den Sinn. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging eine Rechnung nicht auf.