Veröffentlicht: 25.04.2021. Rubrik: Fantastisches
Das Meisterwerk
Am Rücken liegend öffne ich die Augen und starre ins Schwarze. Es ist kalt. In der Stille spüre ich ein Pochen. Immer der gleiche Rhythmus. Es ist mein Herz. Meine Füße stoßen an eine Wand, meine Hände prallen ebenfalls dagegen. Der Raum um mich ist so begrenzt, dass es mir schwer fällt zu atmen. Panik erfüllt mich.
Mit aller Kraft ziehe ich meine Beine heran und stoße kraftvoll gegen die Wand. Unter meinen Füßen öffnet sich mit einem Knall eine Luke. Ich stütze mich mit den Händen ab und schiebe mich durch die Öffnung.
Im Vorraum der Leichenhalle wird der diensthabende Angestellte auf ein Geräusch aufmerksam. Er legt seine Zeitung beiseite um nach dem Rechten zu sehen. Als er die Totenhalle betritt, entdeckt er eine offene Lade. Seltsam, denkt er. Das Fach ist leer. Ich stehe neben dem Mann und halte die Luft an. Die Schusswunde in meinem Bauch schmerzt. Doch der Mann scheint mich nicht zu sehen. Ich atme, mein Herz klopft immer noch. Er schließt die Lade und schlendert zurück an seinen Platz. Ich sehe im nach und denke: Nichts wie raus!
Ich stehe auf der Rue Saint-Marbel. Lärm, Verkehr, Chaos. Leute eilen an mir vorbei. Keiner nimmt mich wahr. Ich muss nach Hause. Es hämmert in meinem Kopf während ich durch die Straßen laufe. Bei meinem Appartement angekommen, suche ich im Hinterhof den Ersatzschlüssel. Erschöpft erreiche ich die Wohnung und schließe die Tür. Was ist passiert? Ich versuche mich zu sammeln, blicke auf die Wunde. In mein Bewusstsein drängen sich Bilder, in denen ich mich in einem Supermarkt befinde. Es gibt einen Überfall. Die Kugel verfehlt die Angestellte, dafür trifft sie mich, eine Frau Anfang fünfzig, die Sicherheitsexpertin des Musée du Louvre.
Mein ganzes Leben habe ich den Kunstwerken und deren Sicherheit gewidmet. Jederzeit war ich abrufbereit und zur Stelle. Keine Zeit für Freundschaften oder Beziehungen. Nur eine Leidenschaft verfolgte ich dennoch wie besessen. Ich malte. Meine Wohnung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Arbeitsplatz. Gemälde türmen sich entlang der Wände. Über dem Bett, neben dem Bett und auch darunter. Jede freie Minute griff ich zum Pinsel.
So gut wie die alten Meister wollte ich werden. Und da stehe ich nun. Mausetot wie die alten Meister. Und doch, mein Herz schlägt noch. Ich habe nicht mehr die Zeit gehabt, meine Werke in irgendeiner der unzähligen Galerien in Paris auszustellen. Mit einer Kugel wurde mein Leben ausgelöscht. Oder doch nicht? Ich bin vom Bestattungsinstitut bis hier her gekommen. Dass ich tot bin, steht auf dem Schild, welches an meinem Arm befestigt ist. Todeszeitpunkt heute, 17 Uhr. Mittlerweile ist es 22 Uhr. Und ich fühle mich alles andere als tot. Eher aufgeregt und voll Energie. Doch wie lange wird mein zweites Leben dauern? Wie viele Chancen bekommt man?
Da ich keine Minute mehr vergeuden möchte, suche ich meine Schlüssel. Eilig laufe ich die Treppen hinunter in den Waschraum, in welchem die Kleider meiner Nachbarin hängen. Ich borge mir ihre Burka und werfe sie über meinen zerschossenen Leib. Zumindest bin ich jetzt wieder eine körperliche Erscheinung. Zurück im Appartement stehe ich zweifelnd vor meinen Kunstwerken. Die Uhr tickt. Fest entschlossen greife ich schließlich zu einem Porträt. Ich umhülle es mit einem Tuch und eile zur Tür hinaus. Bis zu meinem Ziel sind es nur wenige Straßen. Trotz der Menschenmassen scheine ich nicht aufzufallen.
Im Louvre angekommen, setze ich als Erstes die Alarmanlage außer Betrieb. Ist für mich ja eine Kleinigkeit, mit fünfundzwanzig Jahren Berufserfahrung. Dann entledige ich mich der Kleidung und ohne den geringsten Zweifel mache ich mich an die Arbeit. In meinem ganzen Leben hatte ich nur ein Ziel: Etwas Großes zu schaffen. Ein einzigartiges, magisches Kunstwerk. Jeden Tag sah ich all die Gemälde hier und die Menschen, die mit voller Bewunderung und Wertschätzung davor standen. Ich sah traurige Menschen kommen und mit einem Strahlen in den Augen wieder gehen. Und ich sah ängstliche und verzweifelte Menschen, die mit mutigen Blick wieder das Museum verließen. Also malte ich Tag und Nacht. Jahre lang. Bis mir heute die Farbe ausging. Kurzentschlossen lief ich in den nächsten Supermarkt, in der Hoffnung, Leinöl für neue Ölfarbe zu bekommen. Leider suchte zum selben Zeitpunkt auch ein anderer Mann mit weniger kreativen Absichten, dafür aber mit einer Waffe, dieses Geschäft auf.
Leblos stehe ich an meinem Arbeitsplatz. Alles was mir die Zeit noch erlaubt, sind Spuren zu hinterlassen. Da ich weder Kinder noch Ehemänner zurück lasse, braucht es einen anderen Weg um in Erinnerung zu bleiben. Ich nehme das Gemälde ab, welches ich all die Jahre mit Leib und Seele beschützt habe. An den leeren Platz hänge ich mein Selbstporträt, welches zufällig die gleichen Maße aufweist. Nach vollendeter Arbeit stolziere ich zufrieden aus dem Gebäude. Vor Glück springe ich in die Luft und fange an zu tanzen. Immer ausgelassener, immer wilder. Vollkommen in Ekstase vernehme ich am Rande noch ein Hupen, dann höre ich Reifen quietschen. Plötzlich spüre ich einen Aufprall und dann ist es dunkel.
Der diensthabende Angestellte des Bestattungsinstitutes übernimmt die neue Leiche und befördert sie in die Leichenhalle. Aufmerksam kontrolliert er das Schild am Arm der Toten. Nach einer kurzen Pause schüttelt er den Kopf und schiebt die Frau in die freie Lade. Irgendwie kommt ihm der Name bekannt vor.
Die Direktion des Louvre steht am nächsten Morgen vor einem Rätsel. In der letzten Nacht wurde die Mona Lisa von Leonardo da Vinci durch ein unbekanntes Porträt ersetzt. Dieses Porträt zeigt eine Frau mit Krone und Zepter, bekleidet mit der Dienstuniform des Sicherheitspersonals. Vom Täter fehlt jede Spur.
In den nächsten Tagen gibt es nur eine Schlagzeile in den Pariser Zeitungen. Wer ist die neue Mona Lisa?