Veröffentlicht: 29.01.2020. Rubrik: Persönliches
Be brave
Als ich zehn Jahre alt wurde, hatte ich Angst. Ich bin ein 2000er Kind und feierte 2010 meinen zehnten Geburtstag. Und ich habe es gehasst. Ich mochte die Zahlen von eins bis neun, weil sie klein sind. Weil ich wusste, dass ich klein bin. Natürlich haben Menschen in meinem Umfeld immer mal wieder sowas wie "Wie schnell die Zeit vergeht! Ich kannte dich schon, als du ganz klein warst und deine ersten Gehversuche gemacht hast." und "Wow, bist du groß geworden!" gesagt. Solche Sätze haben mich mit sechs Jahren nicht gestört. Auch nicht mit sieben oder acht. Viel mehr war ich stolz darauf, dass ich schon so alt war. Ich habe meine Kindheit sehr genossen und wünschte mir, dass sie ewig anhalten und die Zeit stehenbleiben würde. Aber am allerschönsten für mich war, dass ich nicht mitbekommen habe, wie nicht nur ich älter wurde, sondern auch die Menschen um mich herum. Schaute ich meiner Oma ins Gesicht, hätte ich damals schwören können, dass sie sich seit meiner Geburt kein Stück verändert hatte. Betrachtete ich meine Mama von der Seite, sind mir die kleinen Fältchen nie aufgefallen und sie blieb immer die junge, bildhübsche 24-jährige Frau, die mich zur Welt gebracht hatte. Die Zeit als Kind erschien mir so unbeschwert und vollkommen unkompliziert. Und plötzlich bin ich zehn geworden und ich hatte das Gefühl, dass sich mein Blick auf die Welt ab dem 06.01.2010 änderte. Ich war immer noch ein Kind, aber ein neues Jahrzehnt ist angebrochen. Ein Jahrzehnt, indem ich vom Kind zur Jugendlichen und schlussendlich zur Erwachsenen werden sollte. Und das machte mir Angst. Weil ich mich mit zehn Jahren noch nicht bereitfühlte, meine Kindheitsblase zu verlassen. Ich wollte ein Kind bleiben und das am liebsten für immer.
Mittlerweile haben wir das Jahr 2020 und ich feierte diesen Monat meinen 20. Geburtstag. Rückblickend auf die letzten Jahre kann ich sagen, dass man von der Leichtigkeit der Kindheit meistens nichts mehr gespürt hat, aber die Zeit trotzdem unvergessen bleibt. Denn in den letzten Jahren konnte ich nicht nur meine Persönlichkeit weiterentwickeln und mich zu dem Menschen entfalten, der ich heute bin, sondern habe meinen engen Familienkreis erweitert und Menschen kennengelernt, die ich heute als meine echten Freunde bezeichnen kann. Mit der Zeit hat sich die Unbeschwertheit so gut wie verabschiedet und der Ernst des Lebens kommt immer mehr zum Vorschein. Man ist eigenverantwortlich für seine Fehler. Ich bin von zuhause ausgezogen, lebe in einer anderen Stadt, studiere und führe mein eigenes Leben. In der letzten Zeit fanden so viele Umbrüche statt, dass ich eine Weile gebraucht habe, um alles zu realisieren. Es ist verrückt. Mit zehn Jahren wollte ich absolut nicht, dass sich etwas in meinem Leben verändert und tatsächlich habe ich immer noch Angst, vor jedem Geburtstag, der Jahr für Jahr aufs Neue ansteht. Nicht, weil ich älter werde, denn ich habe für mich gelernt, dass ich mit jedem neuen Lebensjahr mein Ich ein Stückchen mehr vervollständigen kann. Vergleichbar mit einem Puzzle, was ich bis zu meinem Lebensende hoffentlich erfolgreich zu Ende puzzeln werde. Nein, sondern weil mit mir auch mein Umfeld älter wird. Schaue ich meiner Oma jetzt ins Gesicht, kann ich keinen Schwur mehr ablegen, dass sie sich nicht verändert hat seit meiner Geburt. Betrachte ich meine Mama jetzt von der Seite, fallen mir die kleinen Fältchen immer mehr auf und von der jungen, bildhübschen 24-jährigem Frau, die mich zur Welt gebracht hat, ist immer weniger zu sehen. Beide sind mit dem Puzzele des Lebens schon weiter als ich. Und das macht mir mehr Angst, als alles Andere auf der Welt. Weil sie meine größten Bezugspersonen sind und niemals durch jemanden ersetzt werden können. Aber zum Leben gehört der Tod und das kann kein Medikament, kein Gesetz oder kein Gott verhindern. Oftmals geht das schneller, als uns Menschen lieb ist und mit einem Mal wird dir ein Mensch genommen, für den du dein Leben gelassen hättest. Meine persönlichen Erfahrungen sind in dieser Hinsicht schmerzvoll, aber verkraftbar. Andere Menschen aus meinem Umfeld hat es schon deutlich schlimmer getroffen. Ob das Kind vor den Eltern gestorben ist, der Bruder das Leben gelassen hat oder der Papa seine Familie zurücklassen musste. Traurige Schicksalsschläge, die so unerwartet eingetreten sind, dass der Schmerz umso größer war. Hinterbliebene Menschen machten sich Vorwürfe, ihre Zeit mit der von ihnen gegangenen Person nicht richtig genutzt zu haben. Und wenn ich eins daraus gelernt habe, dann dass die Zeit mit der Zeit immer wichtiger wird. Deswegen habe ich für mich eine Entscheidung getroffen, die spätere Gefühle der Reue vorbeugen soll. Ich habe mich bei einer Person gemeldet, die mich so verletzt hat mit ihrem Verhalten, dass ich für eine ganze Weile den Kontakt abgebrochen habe. Jemand, ohne den ich heute nicht existieren würde. Ich habe meine Sturheit von ihm geerbt und auch wenn es mir nicht leichtgefallen ist, bei ihm anzurufen, bleibt er nichtsdestotrotz mein Vater. Daran wird sich bis zu meinem Lebensende nichts ändern. Deswegen nehme ich ihm die Sachen, die er gemacht hat, trotzdem noch übel, aber mit dem Hintergedanken, dass ich auch nicht fehlerfrei bin und auch meinen Teil zur Situation beitrage. Denn ich bin auch stur und mir fällt es schwer, Fehler einzugestehen und meinen Stolz zu überwinden. Ich wählte seine Nummer, weil ich Angst habe, auch er wird älter. Weil mir Schicksalsschläge aus meinem Umfeld bewusst gemacht haben, wie schnell ein Leben vorbei sein kann. Und weil ich mir später nicht vorwerfen möchte, dass ich durch mein stures Auftreten eine Person ohne Weiteres verloren habe. Denn die Zeit heilt zwar Wunden, aber trotzdem bleiben Narben zurück.
Auch mit zwanzig fühle ich mich noch nicht bereit dazu, in die große, komplizierte Welt rauszugehen. Und ich kann auch nur erahnen, was das neue Jahrzehnt für mich bereithält. Die Angst wird ein ständiger Begleiter bleiben. Deswegen liegt es mir besonders am Herzen, die Zeit zu nutzen, die mir bleibt. Als oberstes Ziel habe ich mir gesetzt, auch aus beschissenen Situationen das Beste zu machen und die Zeit mit den Personen zu verbringen, die mir wichtig sind. Außerdem möchte ich meine Zeit nicht vergeuden, indem ich vergebens auf Wunder warte. Sondern ich will mein Leben so gestalten, wie ich es mir vorstelle. Und dazu gehört Mut. Seit zweieinhalb Jahren weiß ich, dass ich mir ein Tattoo stechen lassen möchte. Erst scheiterte es an meinem Alter, dann an einem Motiv und letztendlich am Mut. Mein Neujahrsvorsatz lautet:"Einfach mal machen. Könne ja unglaublich werden." Deswegen habe ich gestern einen Termin beim Tätowierer gemacht, um mich durch das Tattoo "be brave" auch in schwierigen Situationen daran zu erinnern, mutig zu sein.