Veröffentlicht: 28.09.2016. Rubrik: Unsortiert
Die gelbe Blume
Ich fuhr so schnell, wie noch nie mit dem Fahrrad den Oederweg hinauf. Als wäre ich elektrisch aufgeladen, versuchte ich meine Energie durch das Fahren loszuwerden. Nicht nur mein Gesicht strahlte, ich hatte das Gefühl, dass mein kompletter Körper, jede einzelne Faser von mir, lächelte. Er hatte es tatsächlich geschafft, binnen zwei Stunden, mein Herz derart zu erwärmen, dass es glühte. Ich hoffte, der Fahrtwind würde meine innere Hitze abkühlen können. Doch mein Körper wurde sie nicht los. Was war das? Was hatte er mit mir angestellt? Ich war völlig verwirrt und fühlte mich wie ein Teenager mit 41 Jahren.
Ich sah seine dunklen Augen vor mir, wie sie mich anblitzten, als wollten sie mir sagen, „in diesem Körper steckt ein warmes Herz und eine gute Seele“. Ich dachte an sein unwiderstehliches Lächeln, seine Stimme, seine Worte. Ließ die zwei Stunden Revue passieren. Von Beginn bis zum Ende.
Es war ein wunderschöner Tag mit meinem besten Freund und seiner neuen Freundin. Wir gingen zu einem Flohmarkt und erstanden tolle Sachen. Danach ließen wir am „Blauen Wasser“ unsere Seele baumeln. Am frühen Abend verabschiedeten wir uns voneinander und die beiden ließen mich an der Berliner Straße heraus, wo mein Fahrrad noch vom Vorabend stand. Ich fuhr Richtung Goetheplatz und vernahm aus dessen Richtung Musik. Meine Neugierde ließ mich vom Fahrrad absteigen und es abschließen. „Was kostet der Eintritt?“, fragte ich die Türsteher, die am Eingang des großen Holzhauses standen. „Fünf Euro erwiderte einer, ist doch günstig, oder?“. Ich zog einen Fünfer heraus, zahlte und ließ mir den Stempel auf die Innenseite meines rechten Unterarmes drücken. Dann ging ich zur Bar und bestellte mir ein Bier. Mein Blick wanderte über die Tanzfläche, aber ich konnte kein bekanntes Gesicht ausfindig machen. Also ging ich zurück ins Freie, setzte mich an einen Platz unweit von der Holztoilette entfernt und drehte mir eine Zigarette. Neben mir saß ein Mann mit dunklen Haaren und einem dichten schwarzen Bart. Ich begrüßte ihn locker mit der Frage: „Hallo geht’s dir gut?“. Bis heute weiß ich nicht, was in mich gefahren ist. Warum habe ich ihn begrüßt? Lag es an dem Aperol Sprizz, den ich zuvor beim „Blauen Wasser“ getrunken hatte oder daran, dass ich noch Minuten zuvor zu meinen Freunden gesagt hatte, dass ich die Nase voll von Männern hätte und keinen mehr in mein Leben lassen würde. Ich hatte ihn angesprochen, als wäre ich selbst ein Mann und begrüßte einen Vertreter des gleichen Geschlechts.
Schnell kamen wir ins Gespräch. Unterhielten uns über Musik und unsere Jobs. Ich erzählte ihm einiges über mich, er erzählte mir einiges über sich. Er verabschiedete sich dann lose mit der Begründung, dass er wegen seiner Freunde, die auflegen würden, bei der Veranstaltung sei und nun zu ihnen gehen wolle. Wir gingen in die gleiche Richtung; er zum DJ Podest, ich zur Bar. Ein Bier geht noch, dachte ich. Ich besaß nur noch Klimpergeld und kratzte die letzten Münzen zusammen. Nun stand ich an der Tanzfläche und sah, wie er gegenüber mit einer blondgefärbten, unattraktiven Frau sprach. Ich nippte an meinem Bier, ging über die Tanzfläche und setzte mich an den Platz, an dem wir zuvor gesessen hatten. Plötzlich saß er wieder neben mir und fragte: „Wo warst du denn?“ „Naja, ich stand an der Tanzfläche und habe etwas in der Gegend herumgeschaut“.
Wir führten unser Gespräch fort. Er erzählte, dass er an Kinder dachte, keine Lust mehr zum Feiern hätte, er sprach von seiner Familie und seinem Bruder. Es war sehr vertraut, fast schon intim. Wie kam ich bloß auf die Idee, ihm zu sagen, dass ich gern mit ihm befreundet sein wolle? Hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht bereits gespürt, dass zwischen ihm und mir eine ganz andere Anziehungskraft bestand? Es fühlte sich zu keinem Zeitpunkt sexuell an, sondern gefüllt mit Sympathie und einer unerklärlichen Verbindung. Sein Strahlen übertrug sich auf mich. Ich sog seine positive Ausstrahlung und Energie förmlich auf. Irgendwann stand er auf, pflückte eine gelbe Blume und schenkte sie mir. Ich weiß nicht, wann mir ein Mann zum letzten Mal Blumen geschenkt hatte. Diese kleine gelbe Blume machte mich glücklich, weil er sie mir geschenkt hatte. Ich fragte ihn, ob er mit mir auf ein Konzert nach Köln fahren wolle. Er bedauerte jedoch sehr, dass das nicht klappen würde, weil er in der gleichen Woche noch mit Freunden nach Ibiza flog. Ich begann auf die Uhr zu schauen, weil ich wusste, dass ich bald nach Hause musste. Mein Sohn würde demnächst zuhause eintreffen und ich wollte ihn nicht allein lassen. Also verabschiedete ich mich. Doch zuvor bat er mich um meine Telefonnummer, die ich in sein Handy tippte. Dann küsste er mich auf die Wange, umarmte mich und ich begab mich zum Ausgang. Als ich auf dem Fahrrad saß, ärgerte ich mich über mich selbst, da ich mich nicht noch einmal zu ihm umgedreht hatte, um ihm zum Abschied zu winken.
Als ich zuhause ankam, legte ich die kleine, gelbe Blume in die Mitte eines schweren, dicken Buches und verschloss es. Ich hatte keine Nummer von ihm und das war auch gut so. Wahrscheinlich hätte ich ihm bereits fünf Minuten nach dem Treffen schreiben wollen und mich zurückhalten müssen. Ohne seine Nummer kam ich nicht in die Versuchung.
Am nächsten Tag wachte ich auf. Ich hatte von ihm und mir geträumt. Es war ein schöner Traum. Ich konnte mich zwar nicht an Einzelheiten erinnern, aber an die Wärme, die ich immer noch in mir trug, als ich aus dem Traum erwachte. Es fiel mir schwer, zur Arbeit zu gehen. Ich wollte das Gefühl konservieren, es in ein Einmachglas füllen und bei Bedarf öffnen können, wenn ich mich einsam fühlte. Ich wollte in „unsere Welt“ abtauchen können, in eine Welt, die ich innerhalb von einem zwei Stunden Gespräch erschaffen hatte. Eine Utopie, die nirgends existierte. Meine Gefühle kühlten sich jedoch schnell wieder ab, weil ich nicht damit rechnete, dass er sich bei mir melden würde.
Am nächsten Tag saß ich in der Küche und trank Kaffee, als mein Telefon klingelte. Ich sah die Nummer auf dem Display, hatte den Anrufer jedoch nicht gespeichert. Ich ging ran: „Hallo“. Ich hörte ein Rascheln und Schritte. „Hallo!“. Wieder keine Antwort. „Hallo, wer ist denn da?“. Nichts. Ich legte auf. Ist mir schon oft passiert. Die Menschen, deren Vorname mit A beginnt, werden häufiger versehentlich aus der Hosentasche aus angerufen. Dann rief ich die Nummer an. Eine Männerstimme meldete sich: „Hallo“. Ich sagte: „Hallo, wer ist denn da?“. „Hier ist Andrés, hallo“. Ich lächelte. Er stammelte: „Ich wollte mich morgen bei dir melden“. Ich musste grinsen. Das war eine glatte Lüge. Wir redeten kurz, er war noch auf der Arbeit. Wir beendeten das Telefonat relativ schnell.
Ein paar Stunden später schickte ich ihm eine Nachricht:
„Ich fand es übrigens am Sonntag wirklich schön mit dir und habe nicht gedacht, dass du dich irgendwann bei mir meldest. Es war ein kurzweiliger, aber toller Abend. Lustig fand ich, dass du dich vorhin fast schon gerechtfertigt hast „ich wollte mich morgen bei dir melden“. Bleib locker!
Er schrieb zurück: „Wäre schön, wenn wir uns wiedersehen, wenn ich aus Ibiza zurück bin“.
Ich nehme an, dass er nach Ibiza ausgewandert ist, denn ich habe nie mehr etwas von ihm gehört. Aber dafür habe ein neues Lesezeichen für meine Bücher; das ist klein, platt wie eine Flunder, hat einen grünen Stängel und eine gelbe Blüte.