Veröffentlicht: 11.06.2019. Rubrik: Spannung
25/25
25/25
Mein Name ist Joe. Ich bin 17 Jahre alt und absolut kein Fan von sozialem Umgang.
Für mich ist sozialer Umgang wie ein Netz Zitronen.
Jede Zitrone versucht für sich selbst am schönsten zu sein. Wenn eine Zitrone eine braue Stelle hat wird das gesamte Netz für hässlich empfunden, obwohl jede Zitrone dieses Netzes absolut köstlich ist.
Auf der anderen Seite gibt es dann noch diese perfekten Zitronen.
Alles stimmt.
Selbst die Schale ist makellos.
Kaufst du jedoch ein solches Netz, kannst du dir sicher sein, die Früchte schmecken bitter.
Ich gehöre eindeutig zu Netz Kategorie eins, behauptet jedenfalls meine Mutter.
Für meine Klassenkameraden bin ich einfach nur eine hässliche Zitrone und mehr auch nicht.
Es war der 12. Juni 14:15 Uhr als der große Spendenlauf unserer Schule begann.
In kleinen Gruppen mussten die Schüler nach und nach Stationen in der Stadt ablaufen und sich einen Stempel abzuholen. Dieser Marathon war absolut gar nichts für mich.
Ich hasste Sport, ich hasste Menschen und vor allem hasste ich Wettkämpfe.
Schon damals als die Gruppen eingeteilt wurden, hab ich gemerkt, dass die Schüler aus meiner Gruppe nicht wirklich glücklich über mich waren.
Ich war zwar nicht Schuld an dieser Aufteilung, wir wurden nach Initialen alphabetisch eingeteilt, aber jedes mal wenn ich die missbilligenden Blicke der Anderen sah fühlte ich mich schuldig. Ich hatte mir immer ausgemalt, wie es erst sein würde, wenn sie tatsächlich wegen mir verlieren würden.
Hoffentlich wird es nie soweit kommen. Definitiv wird es nicht so weit kommen.
Diesen Gedanken hatte ich jede Minute, jede Sekunde vor dem Startschuss.
14:15 Uhr
Pünktlich war der Startschuss gefallen.
Die ersten paar Meter war ich motiviert.
Ich wollte kein Klotz am Bein sein.
Nicht schon wieder ich.
Ich wollte endlich mal nicht die Zitrone sein, wegen der das Netz im Regal liegen gelassen wurde.
14:30 Uhr
Es war bereits unser erster Stopp.
Der erste Stempel. Geschafft 1/25.
Ich war schon jetzt außer Puste. Absolut keine gute Bilanz.
Stopp für Stopp wurde ich schwächer und schwächer. meine Gedanken schweiften nur noch so dahin. Ich fühlte mich immer schwerer. Mir war klar mit jedem Schritt den ich nach vorne ging, zog ich unser Zitronennetz einen zurück. Ich hasste dieses Zitronennetz.
Ohne mich waren die Anderen besser dran. Ohne mich war das Netz wieder schön und leicht. Mit mir nur hässlich und schwer. Ich musste eine Lösung finden.
Gedanke im Kopf. Knie auf den Boden. Kopf auf den Asphalt.
Das war vielleicht nicht die beste Lösung von mir, aber sie war effektiv.
Mein Knie war blutig aufgeschlagen. Mein Kopf hatte eine kleine Platzwunde.
Das Zitronennetz wurde aber nicht disqualifiziert, wie es durch mein Ausstieg geschehen wär, sondern durften weiter laufen, während ich auf die Krankenstation gebracht wurde.
Ich hasste mich dafür, dass ich immer noch so viel dafür gab nicht die Schuldige zu sein.
Ich konnte es den Anderen ansehen wie sie das Mitleid mir gegenüber heuchelten aber eigentlich die pure Erleichterung aus ihnen sprach.
Solche Menschen sind für mich die Definition einer bitteren Zitrone.
15:13 Uhr
Die Krankenstation war hinter dem großen Festpavillon. Der Festpavillon war die letzte Station des großen Marathons.
Ich hatte zwar verkürzt, aber das war mir in diesem Moment egal. Ich hatte mich aus meinem Netz befreit und saß nun hier. Stempel 25/25. Der Stempel, den mir das Erstehilfeteam gab, war als Trost gedacht. Für mich war er aber mehr als das.
Am Zielpavillon waren alle Eltern versammelt.
Alle Freunde.
Jeder der Unterstützung zeigen wollte.
Meine Eltern waren nicht da. Wichtiges Meeting meinten sie.
15:48 Uhr
Die erste Gruppe kam ins Zielpavillon.
Es war nicht meine Gruppe.
Und das war mir egal, denn ich war nicht Schuld.
16:16 Uhr
Die letzte Gruppe kam ins Ziel.
Meine Gruppe war als fünftes über die Zielgerade spaziert. Keiner aus meiner Gruppe kam zu mir. Keiner zeigte mir das ich ein Teil der Gruppe war.
Ich stand allein da.
Verletzt. Allein. Frustriert. Aber nicht Schuld.
Dennoch war ich die erste mit dem Stempel 25/25.
Also theoretisch mit Abstand der wahre Sieger.
Dieser Gedanke ließ mich lächeln. Allein.
Die meisten saßen im Pavillon als es geschah. Klassisch am Kaffe und Kuchen essen. Ich stand natürlich Abseits. Hatte ich mich losgerissen aus dem Netz oder wurde ich ausgestoßen?
16:52 Uhr
Nun liegen wir hier auf dem Boden. Ab und zu ein Schrei. Sonst angsterfülltes Schweigen. Das Schweigen ist so laut, es betäubt meine Ohren.
Wieso passiert sowas hier ?
Wieso wir ?
Wieso ich ?
Im Polizeifunk wurde es öffentlich um ca. 16:50 Uhr stürmte ein bewaffneter Amokläufer eine Schulveranstaltung. Bislang war noch nicht klar wieviele Verletzte es waren. Tote waren zu erwarten.
16:53 Uhr
Wir liegen immer noch hier auf dem Boden. Diesmal gibt es kein Sie und Ich. Für diesen Moment sind wir ein wir. Genieße ich es Teil des Netzes zu sein?
Der Täter wirkt nervös.
Ich fühle mich nutzlos. Jetzt brauch ich euer Wir auch nicht mehr. Hier auf dem kalten Boden. Meine Gedanken sind wieder überlastet. Es tut fast schon weh meine Gedanken zu sortieren. Ich hasse es aber ich lebe.
Ich lebe weil ich es hasse.
Der Polizeifunk warnte davor auf die Straßen zu gehen. Der Täter war immer noch nicht identifiziert. Das Geschlecht jedoch stand fest.
Weiblich.
16:54 Uhr
Sie schreien, weil sie nicht wissen was sie tun können.
Wieso machst du das?
Wieso wir?
Du musst das nicht tun wir verstehen dich ?
Doch ich verstehe gar nichts. Wie kann man so verzweifelt sein. Ich weiß nur eins. Ich lebe.
Der Polizeifunk gab bekannt, dass der Amokläufer wohl eine Schülerin der Schule war, die den Spendenmarathon veranstaltete.
16:55 Uhr
Wieviele will sie den noch töten ?
Eine Frage. Tausend Antworten.
Ich habe keine einzige darauf. Für mich ist das auch unwichtig. Wir sind schon lange kein Wir mehr.
Der Polizeifunk äußerte die Vermutung die Täterin, wäre um die 17 Jahre alt.
16:56 Uhr
Wieso bin ich noch am leben ?
Die Leichen neben mir stapeln sich. Mein Gesicht ist voller Blut. Aber ich lebe. Wieso?
17:00 Uhr
Mein Name ist Joe ich bin 17 Jahre alt. Ich lebe. Wieso wollt ihr wissen? Hässliche Zitronen bleiben meistens am längsten im Regal liegen.
Um 17:01 gab die Polizei Entwarnung. Die Täterin war erschossen.
Sie war 17 Jahre alt, Schülerin der St. Hennings Schule.
Bereits vor einigen Jahren wurde sie aktenkundig durch auffälliges Verhalten.
Später am Tag wurde die Identität der Täterin bekannt gegeben.
Es war die 17 Jährige Joe, die seit eines Brandes ein verunstaltetes Gesicht hatte. Deswegen auch unter psychischen Problemen litt.
Wichtiges Merkmal:
Die Schülerin soll laut Zeugenaussagen immer eine Zitrone bei sich getragen haben.