Die himmlische Stimme

Herr Maurer ist auf Geschäftsreise. Seine Unterkunft, die er sich selbst aussuchen konnte, ist äußerst ansprechend und komfortabel. „Hier könnte ich auch ein paar Tage Urlaub machen“, denkt er zufrieden. Alles, wirklich alles Top ! Besser als erwartet – zumindest bis jetzt. Jetzt musste nur noch der Schlafkomfort stimmen. Er gönnt sich noch einen Absacker an der Bar, ordert einen Weckruf an der Rezeption und nur eine halbe Stunde später sind die ersten Schnarchgeräusche aus seiner Kehle zu vernehmen.
Das Telefon klingelte. Benommen, noch im Halbschlaf, nimmt Herr Maurer ab. “Ja ?“, ist alles, was er sagen kann. „Guten Morgen. Sie wollten geweckt werden,“ haucht eine Stimme, am anderen Ende der Leitung. Herr Maurer fällt zurück in sein Kissen. Was war das denn ? Seit wann übernehmen Engel die Weckrufe ? Diese Stimme wirkte wie eine Droge. Er schwebte über der Matratze und musste sich kneifen, um sicher zu stellen, dass er nicht geträumt hatte. Wow. Sinnlich, leicht rauchig , fast ein bisschen verrucht, klang dieses Phantom, das ihn soeben ausgeknockt hatte. Dabei sollte sie ihn doch wecken. Herr Maurer hatte Gänsehaut an Stellen seines Körpers, wo er das Entstehen einer solchen für vollkommen unmöglich gehalten hätte. Warum, um alles in der Welt, hat sie mir nicht die Chance gegeben, mit ihr zu reden ? Warum hatte sie einfach aufgelegt ? Das Leben konnte grausam sein. Er zwang sich aufzustehen und ging ins Bad. Wie in einer Endlosschleife hörte er die melodiösen Worte: “Guten Morgen. Sie wollten geweckt werden“. In seiner Fantasie erklang diese leise, aber gleichzeitig voluminöse Stimme. Es wäre eine Beleidigung, wenn man es Sprechen nennt - es war ein Hauchen, gepaart mit dem harmonischen Schwingen der Stimmbänder.
Herr Maurer hatte Angst zur Rezeption zu gehen. Was, wenn die Hülle dieses übersinnlichen Timbres vollkommen reizlos wäre ? Der Anblick ernüchternd und enttäuschend ? Wollte er das wirklich wissen ? Ein lautes „Nein“ wanderte von seinem Bauch ins Herz und weiter in den Kopf. Seifenblasen sind so schön. Er wollte nicht, dass seine zerplatzen.
Während des gesamten Aufenthalts vermied Herr Maurer jeglichen direkten, verbalen Austausch mit dem weiblichen Empfangspersonal. Vor dem Einschlafen bestellte er seinen Weckruf telefonisch und schlummerte bereits Minuten später, selig wie in Abrahams Schoß. Die Vorfreude auf den morgendlichen Anruf beflügelte ihn.
Herr Maurer reiste ab – die Hülle der Engelsstimme sollte er nie kennenlernen. Zu perfekt war seine Vorstellung und zu groß die Angst, dass aus einem Traum ein Albtraum werden könnte. Und wenn er nicht gestorben ist, dann träumt er noch heute.

Weitere Kurzgeschichten von diesem Autor: