Veröffentlicht: 11.10.2023. Rubrik: Aktionen
Die Ernte des Kurzgesagten
Eine Satire
Im 21. Jahrhundert sind Aphorismen zu heiligen Schriften geworden. Diese kleinen, eingängigen Sätze werden auf Pinterest, in Selbsthilfebüchern und auf Kaffeetassen verbreitet. Elmar Kupke (1942–2018) stellte fest: „Das Kurzgesagte ist die Ernte von Langgedachtem.“
Besonders diejenigen, die lieber das Korn ernten, ohne je gesät zu haben, finden eingängige Sätze gut. Warum sollten sie sich die Mühe machen, zu lesen, zu studieren oder nachzudenken, wenn sie einfach prägnante Worte verwenden können, um ihr intellektuelles Ego zu streicheln.
In einer Welt, in der die Aufmerksamkeitsspanne kürzer ist, als ein entweichender Wind aus dem Bauchraum, gedeiht diese Art der Kommunikation. In sozialen Medien schießen Tweets und Statusupdates wie digitale Disteln aus dem Boden. Hier glänzt der Influencer mit seinem neu erworbenen Wissen und zeigt auf die jüngsten, zu bewerbenden Produkte. Das Publikum, das genauso viele Aufmerksamkeitsspannen hat wie Honigbienen in Arbeitswut, klatscht begeistert in die Hände. Ohne diese wertvollen Informationen wäre ihr Leben wesentlich ärmer.
Auch in der politischen Welt hat das Kurzgesagte seinen Platz erobert. Statt lange Reden zu halten, reichen eine Handvoll Hashtags zu, um sich als Politiker in Szene zu setzen: „#Nicht denken“, lautet einer; „#Ich werde lenken“, ein anderer; „#Putzt eure Zähne“, der wohl wichtigste für unser Wohlergehen.
Warum sollten wir uns dann mit komplexen Fragen und Problemen auseinandersetzen, wenn sie uns in einem einzigen Satz erklärt werden?
In dieser Welt verkürzter Gedanken und reduzierter Weisheit ist es kein Wunder, dass wir uns immer mehr von der Tiefe des Denkens entfernen. Wer braucht da schon lange Überlegungen?
Die Ernte des Langgedachten mag wichtig sein, aber sie ist mühsam und zeitaufwendig. Warum sich also die Mühe machen, wenn wir uns auf schnelle, leicht verdauliche Ernten beschränken können? Das spart Investitionen in Bildung, Schule und Sportvereine.