Veröffentlicht: 02.06.2023. Rubrik: Unsortiert
DER STEIN DES ANSTOSSES
Können Steine sprechen? Zu erfahren in meiner neuesten Wochengeschichte: Und nicht vergessen die Wochengeschichte zu Teilen: MERCI; DANKE!
DER STEIN DES ANSTOSSES
Seit zwei Monaten besuche ich die berühmte Sprachschule im Herzen unserer Altstadt. Jeden Donnerstagabend durchschreite ich ein wundervolles Renaissance-Tor so würdevoll, wie es sich geziemt. Doch heute Abend stört mich in meiner mittelalterlichen Gangart ein Druck in meinem Schuh. Sneaker ist der bessere Ausdruck, denn ich muss mich in der Sprachschule einer genauen Aussprache befleissigen, sonst falle ich bestimmt bei der Schlussprüfung, die in wenigen Wochen ansteht, kläglich durch. Das Sprachdiplom ist für meine weitere Karriere wichtig, werden doch ausgedehnte Kenntnisse dieser Fremdsprache für den nächsten Hopser in der Hierarchie unseres Unternehmens vorausgesetzt. Und natürlich ein aufrechter, eleganter Gang, um den ich mich stets bemühe, der mir aber heute wegen des Drucks im Fusskleid nicht gelingen will. Doch mich hier, mitten in der Stadt, nackten Fusses zu zeigen, ist auch keine Lösung. Würde meiner Würde unendlich abträglich sein und mich beim Sprachlehrer treppig herabstufen, was ich mir nicht leisten kann. Denn meine Leistungen in der zu perfektionierenden Sprache sind regelmässig mässig, sodass ich mir keinerlei Schnitzerchen, selbst eines Nacktfusses, erlauben kann.
So schreite ich nicht, sondern humple meinem Ziel, dem holzgetäfelten Unterrichtsraum, entgegen. Werde vom attraktiven Lehrer, dessen sportliche Contenance ich bewundere, mit einem schiefen Lächeln mit dem Doppelwort Attitude=Haltung begrüsst, was mir einen Stich ins Herz versetzt, denn ob ich es wahrhaben will oder nicht, dadurch ist in seinen Augen die steile Herabstufung bereits erfolgt. So kann ich ohne weitere Absturzgefahr den linken Sneaker unter dem Pult, vom rechten leicht beschützt, ausziehen, schütteln. Ein leises Klirren erfolgt, und ein spitzer Stein=sharp stone kullert munter auf den kühlen Steinboden. Ich versuche, auch diesen Störenfried (oder ist es eine Friedin?) zu ignorieren. Probiere, ihn mit der neu ins Fussbett geschlüpften Rechten zu verdecken. Hoffe, der Lehrer hat das nicht bemerkt.
Doch der Stein ist renitent. Klopft schmerzhaft durch die Sohle, sodass ich ihn wieder freigeben muss. Bemerke, dass er einäugig ist. Und dieses starrt mich an. Versucht den Blickkontakt herzustellen. Und in meinem Kopf dröhnen steinerne Sprachfetzen, als seien es wallende, quallende, unverständliche Nebel. Verstehen kann ich nichts. Konzentriere mich, als ob ich einem Wort der zu lernenden Sprache hinterherjagen würde.
Nehme mein Gedanken-Messer zur, nein, nicht zur Hand, sondern zum Danken. Das Ge lasse ich weit hinter mir. Die scharfe Klinge zur Kopfmitte richtend. Zerschneide damit die nebulöse Schicht, und tröpfchenweise fallen verständliche Sätze in mein Synapsen-Auffangnetz: „Ich auch! Sprache lernen. Nicht steinstumm bleiben.“ In wohlig tönender, sexy versteinerter Tonlage, die mein Blut in Wallung bringt.
Und seither kommuniziere ich einzig noch in der stummen Steinesprache. Vergesse Prüfung und Karriere-Hopser. Mit den Steinen zu kommunizieren ist unendlich unterhaltsam. Spannend! Denn die Vita eines einzelnen oder mehrerer gesichteter Steine zu erfahren, in Jahrmillionen zu denken, ist mehr als eine Lebensaufgabe für ein individuelles menschliches Wesen …
Und als Bonus ein weiterer DREISATZROMAN aus meiner Feder:
S T U M M
Vernunft
Verstummt.
Unvernunft
Brummt.
Auftritt
Stets in
Neuem Kleid.
Herzlichst
François Loeb
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