Veröffentlicht: 07.03.2023. Rubrik: Unsortiert
Die schlimme, kleine Schwester
Am Freitag vor Weihnachten im Jahre 1996 reiste ich mit der Bahn in Richtung Nordsee. Im ICE von Frankfurt nach Hamburg wurde ich im Abteil Zeuge einer Interaktion, die mir nicht so schnell aus dem Kopf gehen sollte.
Es war bitterkalt an jenen Tagen. Auf der zugefrorenen Binnenalster war ein kleiner Weihnachtsmarkt aufgebaut. Schlittschuhläufer zogen ihre Bahnen auf der weiten Fläche. Im Radio liefen, abgesehen von den unvermeidlichen Boygroups wie Backstreet Boys oder N’Sync, Songs wie „Unbreak my heart“ von Toni Braxton oder „2 become 1“ von den Spice Girls, erste Weihnachtslieder.
Ein junger Mann, seinerzeit so um die 19-20 Jahre alt, also etwa in meinem Alter, reiste in Begleitung seiner kleinen Schwester. 11 Jahre alt, in Richtung Dänemark, um, wie aus dem Gespräch zu entnehmen war, Weihnachten mit Verwandten in Roskilde zu verbringen. Ihm gegenüber saß eine Frau, etwa gleichen Alters, mit derer natürlich ein wenig flirtete. Dies wiederum verfolgte und kommentierte dessen kleine Schwester zunehmend eifersüchtig und nörgelig. "Und du musst deine schlimme, kleine Schwester mitnehmen", zumindest so etwas in der Art, maulte sie immer wieder. Oder gar: „Ihr würdet gar nicht merken, wenn ich verloren gehen würde.“ In Hamburg Hauptbahnhof stiegen alle drei aus, das Geschwisterpaar stieg um, während meine eigene Fahrt bis zur Endstation am Bahnhof Altona und von dort weiter nach Westerland führte.
Beinahe ein Vierteljahrhundert war vergangen und ich hatte diese vorweihnachtliche Bahnfahrt fast vergessen, als ich im Sommer 2021 durch einen TV-Beitrag auf Christina Stevenhagen, eine 43-jährige FDP-Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft, die nun für den Bundestag kandidierte, aufmerksam wurde. Auf einmal war alles wieder da und ich fragte mich, was aus den Mitreisenden inzwischen geworden war. Und, ob Toni Braxton wohl noch Musik macht.
Nachdem Julia gut zwei Jahre bei ihrem Vater und dessen neuer Frau in Roskilde gelebt hatte, kam sie als 14-Jährige schließlich wieder zu ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Frankfurt zurück. Der Abschied von ihrer dänischen Schule war ihr nicht leichtgefallen, da sie dort viele Freunde gefunden hatte und sich auch mit den Lehrern sehr gut verstand. Auch war ihr Dänisch inzwischen nahezu perfekt geworden und kaum noch von Muttersprachlern zu unterscheiden. Aufgrund zunehmender Konflikte mit ihrer Stiefmutter hatte sie keine andere Wahl, als von ihrem Vater und von Dänemark Abschied zu nehmen. Mette, die neue Frau des Vaters, war gut 20 Jahre jünger als er, nämlich gerade 28 Jahre alt. Julia fand Mette zunehmend peinlich, während diese Julia wiederum für eine undankbare, aufmerksamkeits-süchtige Göre hielt. Mitunter warf Mette ihrer Stieftochter auch vor, sich ungefragt ihre Kleider auszuleihen, was gelegentlich auch zutraf.
Ihr Vater, dem es immer schwerer fiel, zwischen seiner Tochter und seiner neuen Frau zu vermitteln, regte an, dass Julia wieder zu ihrer Mutter nach Deutschland zog.
Zurück in Frankfurt verstand sie sich mit ihrer Mutter auf Anhieb ohne Probleme. Auch an ihrer neuen Schule, im Stadtteil Sachsenhausen, fand sie schnell Freunde. Von ihrem Bruder, der als Student an der Goethe-Universität ebenfalls noch bei seiner Mutter lebte, hätte sie sich allerdings mehr Unterstützung und Beachtung gewünscht. Gelegentlich fühlte sie sich von Sven auch kontrolliert und bevormundet. "Musst du so spät noch mit den Mädels abhängen? Du schreibst doch morgen Mathe“, mahnte er sie. Oder: "Hey, das bist du doch nicht", wenn sie übertrieben schrille Outfits trug.
Im Laufe der folgenden Wochen ließ mir diese Begegnung keine Ruhe mehr. Die Wahlen lagen hinter uns, die FDP kam in die Regierung und auch Christina hatte ein Mandat erringen können. Ich verfolgte alle Presseberichte über sie sowie alle ihre Social-Media-Postings. Bei alledem bohrte in mir die Frage, was wohl aus den beiden Geschwistern im Laufe der Jahrzehnte geworden war. Und ob Christina wohl noch eine Weile Kontakt zu ihrer ICE-Bekanntschaft gehalten haben mochte. Schließlich konnte ich mir nicht mehr verkneifen, sie auf Social Media anzuschreiben und ihr zu erklären, dass wir damals, Ende 1996, einmal für ein paar winterliche Stunden zusammen im ICE das Abteil geteilt hatten und ich sie im Fernsehen nun wiedererkannt hatte. Und dass ich mich an ihre nette Unterhaltung mit jenem jungen Mann erinnerte, der seinerzeit mit seiner kleinen Schwester Richtung Dänemark reiste, um dort Weihnachten bei Verwandten in Roskilde zu verbringen. Dies habe sie auch gut in Erinnerung behalten, antwortete sie mir, und, ja, sie habe tatsächlich noch gelegentlich Kontakt zu Julia und Sven. Ausführlich berichtete sie mir von einem Netzwerk für Existenzgründerinnen, das sie mit viel Leidenschaft betreut. "Julia haben wir auch dabei unterstützt, sich als Konzept-Künstlerin selbstständig zu machen. War wohl nicht immer leicht für sie, gerade während der Corona-Lockdowns, aber sie hat es überstanden, vor allem auch, weil ihr Bruder sie immer finanziell unterstützt hat. Er war ja immer dagegen, dass sie das mit ihrer Kunst hauptberuflich macht, aber das ändert ja nichts daran, dass er sich immer für seine kleine Schwester verantwortlich fühlte. Verdient ja auch wirklich genug."
Irgendwann im Laufe der Jahre kam Sven wieder in Kontakt mit Christina, seiner ICE-Bekanntschaft, woran die aufkommenden digitalen Möglichkeiten einen entscheidenden Anteil hatten. In der Folgezeit besuchten sie sich gegenseitig hin und wieder. Mit den Jahren wurde Christina auch für Julia so etwas wie eine große Schwester. Sie half bei so manchem Oberstufenreferat und stand ihr mit zahlreichen Tipps im Hinblick auf Jungs, also auf Beziehungsfragen im Allgemeinen und im Besonderen beiseite. "Weißt du schon, welches Kleid du zum Abi-Ball anziehen möchtest?", fragte Christina sie eines Tages, als dieser Anlass sich näherte, was Julia verneinte. "Wenn du magst, helfe ich dir bei der Auswahl. Und ich kann dir auch eine supercoole Frisur machen", schlug Christina daraufhin vor. Beide Angebote nahm Julia dankend und gerne an. Zu ihrer mündlichen Abitur-Prüfung trug sie eine elegante, weiße Bluse, die Christina ihr geliehen hatte. "So ein Outfit gibt Extrapunkte", hatte Letztere gemeint. Mit ihrem Bruder geriet Julia zu dieser Zeit in Streit, was ihre berufliche Zukunft betraf. Sven wollte seine kleine Schwester nämlich davon überzeugen, etwas Solides wie BWL oder Jura zu studieren. Julia war jedoch entschlossen, in den Kunst- und Designbereich zu gehen. "Komm, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mir mit diesem Kunst-und-Design-Blödsinn davonkommst“, erregte Sven sich. Christina hingegen unterstützte Julia in ihren Ambitionen.
Einige Zeit nach seinem Kontakt zu Christina nahm ich über Skype Kontakt mit Sven auf, der seit einigen Jahren mit seiner US-amerikanischen Freundin in einem Loft in Brooklyn lebte, nachdem Christina mir seine Kontaktdaten gegeben hatte. Ja, er erinnerte sich an mich und an jene vorweihnachtliche Zugfahrt, erklärte er mir zu Beginn. Auf das eifersüchtige Verhalten seiner kleinen Schwester angesprochen musste Sven lachen. "Ja, ja, die Julia, immer voll die Prinzessin, muss immer im Mittelpunkt stehen. Das ist eben meine kleine Schwester. Sorry, wenn sie dir damals auf den Sack gegangen ist." "Keine Ursache. Ich fand's eigentlich eher amüsant", erwiderte ich. Wenig später kamen wir auf Julias Karriere als Installationskünstlerin zu sprechen. "Also, ich wollte ihr das mit dem Design-Studium ja ausreden. Aber meine kleine Schwester hat ja ihren eigenen Kopf. Na ja, Hauptsache, sie hat etwas gefunden, was ihr Ding ist. Und ein bisschen Erfolg scheint sie damit ja auch zu haben." Davon, dass Julia die Corona-Lockdowns ohne seine finanzielle Unterstützung nicht überstanden hätte, erwähnte Sven nichts. Ich sprach ihn auch nicht darauf an. Im Folgenden sprachen wir noch eine Weile über das Leben in New York. "Wenn du mal nach New York kommst, wohnst du bei uns. Wir haben genug Platz. Auch wenn du dich beruflich verändern möchtest, komme einfach auf mich zu. Vielleicht kann ich etwas für dich tun", gab Kai mir zum Abschluss noch mit.
Nach seinem BWL-Studium hatte Sven rasch eine sehr gut bezahlte Anstellung bei einer international tätigen Unternehmensberatungsfirma gefunden, die ihn über Brüssel, Prag und London schließlich nach New York führen sollte.
Julia hatte sich als Studentin zeitweise in der globalisierungskritischen Bewegung Attac engagiert, dies gab sie jedoch schon bald wieder auf.. Zugleich jobbte sie gelegentlich als Betreuerin in Jugendzentren, wobei die Jugendlichen mit ihren Ansichten und ihrer Energie Julia wichtige Inspirationen für ihre künstlerische Arbeit lieferten.
Nachdem ich mich bereits eine Zeitlang auf digitalen Kanälen mit Julia ausgetauscht hatte, traf ich mich mit ihr schließlich in Ulm, wo sie seit einigen Jahren lebte. Auch sie erinnerte sich zumindest an mich, wobei ihr nur peinlich war, wie ich sie damals erlebt hatte. "Wow, du musst mich ja für eine mega egozentrische Bitch halten", meinte sie verlegen lachend, als wir das erste Mal miteinander telefonierten. "Du warst ein Kind. Kinder sind meistens Egoisten", erwiderte ich. "So, und du denkst, heute bin ich keine schlimme, kleine Schwester mehr? Vielleicht bin ich heute ja noch viel schlimmer." Ihre Art gefiel mir.
Als wir uns an einem lauen Sommerabend im August 2022 schließlich in einer netten, kleinen Pizzeria am Ulmer Donauufer trafen, inzwischen waren ein Angriffskrieg auf europäischem Boden und in der Folge eine Energiekrise in die Welt gekommen, erzählte sie mir ausführlich von ihrem Leben. Wie sie als Kind unter der Trennung ihrer Eltern gelitten hatte. Wie sie damals irgendwie das Gefühl gehabt hatte, sie sei schuld an dieser Trennung, weil ihr Vater sie nicht mehr ausgehalten hatte. Wie sie Halt bei ihrem Bruder gesucht hatte, der jedoch vor allem mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Von ihrer Zeit beim Vater in Dänemark, dessen neue Frau sie jedoch zunehmend als Konkurrentin, um dessen Aufmerksamkeit zu betrachten schien. Von ihrer Jugend zurück in Frankfurt und der Zeit, als schließlich Christina, jene Zugbekanntschaft ihres Bruders war, die erneut in ihr Leben trat und so etwas wie eine Mentorin für sie wurde. Von ihren Studienjahren, in denen sie sowohl intellektuell als auch menschlich immer auf der Suche war. Nach Halt, nach Sinn, nach Aufmerksamkeit, nach Liebe. Wonach auch immer. Von ihrem ersten Erfolg als Künstlerin. Das alles sprudelte nur so aus Julia, die in einem roten Sommerkleid dasaß, so, als habe sie seit Jahren nur darauf gewartet, alle diese Dinge einmal jemanden erzählen zu können. "Du würdest mich für die allergrößte Schlampe halten, wenn ich dir erzählen würde, mit wie vielen Typen ich, seit ich 14 war, schon rumgemacht habe", entfuhr es Julia zwischendurch. "Keine Sorge. Mich schockt nichts so schnell", versuchte ich sie zu beruhigen.
Natürlich erzählte ich auch etwas von mir, wobei mein Leben, wie ich fand, weitaus weniger erzählenswert klang. "Find' ich cool", kommentierte sie immerhin die meisten meiner Erzählungen. Und so hüllten uns der Rotwein und die sanfte Luft dieses Sommerabends mehr und mehr in eine ebenso sentimentale wie wohlige Stimmung. "Mit 37 bin ich langsam zu alt, um die Nächte in Clubs durchzutanzen", meinte Julia irgendwann, was ich, dem diese Dinge stets fremd geblieben waren, nur schwer nachfühlen konnte.
Und so landeten wir schließlich, als es nichts mehr zu sagen gab, in ihrer Wohnung. Und in ihrem Bett.
Ein wunderbarer Duft nach frischgebrühtem Kaffee weckte mich. Sofort fiel mir alles wieder ein. Es war ein wunderschöner Tag, die Morgensonne schien durchs Fenster und mich umwehte sofort das wohlige Gefühl, nach langer Durststrecke endlich wieder die Nähe und die Wärme eines anderen Menschen in meinem Leben spüren gedurft zu haben. Ich hatte die schlimme, kleine Schwester von 1996, ein Kind von 11 Jahren, gesucht und eine ebenso sensible wie lebenslustige Frau von 37 Jahren gefunden. „Bist du schon wach?“, rief Julia aus der Küche, bevor sie im Nachthemd um die Ecke kam und Kaffee, Frühstück und Orangensaft ans Bett brachte. "Hoffentlich kriegen wir dieses Jahr nicht so einen kalten Winter wie in den Jahren 96/97. Dafür würden die in Hamburg sicherlich gerne auf das Eislauf-vergnügen oder den Weihnachtsmarkt auf der zugefrorenen Binnenalster verzichten", sagte ich, in Anspielung auf unser erstes Treffen einerseits und mit Blick auf die drohende Gasmangellage andererseits, nachdem wir uns mit dieser Mahlzeit gestärkt hatten. Gasmangellage und Energiekrise, das waren nun wieder Worte, die wir alle ähnlich schnell gelernt hatten wie 7-Tage-Inzidenz oder vulnerable Gruppen in der Corona-Pandemie. "Dafür ist der Klimawandel doch schon viel zu weit fortgeschritten", meinte Julia nur. "Also, wenn ich den Habeck schon sehe", setzte ich an, doch sie hielt mir nur zärtlich die Hand auf den Mund und meinte "Hey, jetzt entspann dich doch mal."
Und so liebten wir uns erneut.