Veröffentlicht: 20.01.2023. Rubrik: Unsortiert
ZUNGENDIVAN
Worte die sich versecken? Auch schon erlebt? Diese sind Hauptdarsteller meiner neuesten Wochengeschichte:
ZUNGENDIVAN
"Meine Zunge liebt es sich auf dem Divan auszuruhen. Herumzufläzen. Als sei sie ein Teenager. Dies, obwohl bereits 82 Jahrringe sich um ihren länglichen, hoch beweglichen, von Schleimhaut überzogenen Muskelkörper gedreht hat", bemerkte mein Grossvater, als ich ihn gestern besuchte.
Ich liebe diese Begegnungen, denn einerseits habe ich wundervolle Kindheitserinnerungen an ihn. Er war es, der mir die Wunder des Lebens zeigte. Den Sternenhimmel erläuterte. Venus, die hell am Abendhimmel leuchtende und ihre Laufbahn sowie die Versprechungen herrlicher bevorstehender Nächte näher brachte. Märchen vorlas, die ich als Realität wahrnahm. Und dann als Jugendlicher führte er mich in das Leben ein. Erläuterte mir die Stärken und Schwächen der Menschen. Zeigte mir, wie Untertreibungen und deren Über-Ich zu erkennen, dass Lügen in die Gemeinen und die Nötigen zu unterteilen sind. Viel habe ich ihm, meinem Grossvater, den ich hoch verehre, zu verdanken.
Ach, denke ich öfter, wäre er doch gleich alt wie ich. Zahllose Freundschaftsjahre stünden uns noch offen. Umso mehr erstaunte mich seine Aussage. Was wollte er nur über seine Zunge berichten? Dass diese bereits alt war, konnte selbst ihn bestimmt nicht in Erstaunen setzen. Aber einen Divan besitzen? Ein bequemes Sofa, auf dem sie sich ausruhen, ja unanständig liegen könne, wie es mir meine Mutter oft vorgeworfen hat, als ich vor der Spielkonsole meine Freizeit zu verbringen pflegte. Dass Grossvater bei seiner Zungensofaussage dazu einen bedrückten, beinahe gequälten Gesichtsausdruck aufsetzte, als finde eine Sonnenfinsternis in seinem Frohnatur-Antlitz statt, liess bei mir von aussen unsichtbare Sorgenfalten in meiner Seele entstehen. Da entschied ich mich hoffend, seine Intimsphäre dadurch nicht zu verletzen, den Stier bei den Hörnern zu packen, dem Zungendivan auf den Grund zu gehen.
So wage ich nach etlichem Hin und Her in meinem Hirn, um meinem Grossvater keine Schmerzen zu bereiten, es könnte hinter der Seelendivan Aussage ein Geheimnis verborgen sein zur Frage, in welchem Einrichtungshaus er sich das Möbelstück besorgt habe. Ob es Zungenfarben oder mit weisser Schicht überzogen sei. Er verstand den Schalk in meiner Frage, so hatte ich es erwartet und legte gleich los.
"Auch du wirst nolens volens eines Tages zu einer Zungendivan-Aquisition verpflichtet sein. Durch das lange Leben ist meine Hirn-Festplatte beinahe voll. Hat kaum mehr freien Raum. Da hilft auch kein Einrichtung-Tempel. Nicht einmal ein Schwedischer. Auch nicht eine prallvolle Brieftasche. Oder ein Innenarchitekt samt Schreiner. Selbst ein Flohmarkt ist nicht hilfreich, obwohl Flöhe nicht weit von der Zunge sich ihren Lieblingsaufenthaltsort auserkoren haben. Worte die du dann benutzen solltest, lassen sich nicht mehr hervorzaubern. Klar ist, dass auch Worte nach so vielen Jahren ein Anrecht auf einen dezenten Ruhestand besitzen. Doch dass sich diese zuerst verstecken, du weisst nicht wo, ist ungerecht. Sie legen sich alsdann auf deinen Zungendivan und amüsieren sich, Schenkel schlagend an deiner Ersatz-Wortsuche, mit der du bei deinem Gegenüber Verständlichkeit erzeugen willst."
Da steht Grossvater auf, beugt seinen Kopf zu mir, legt sein Ohr auf meines und will mit heiterer Stimme wissen, ob ich das Gelächter der Worte vernehmen könne. Für ihn sei es jeweils trotz des Wortesucheärgers ein Hort der Heiterkeit, des Vergnügens, denn das Erkennen der Unvollkommenheit sei der Kern der Samen der Vollkommenheit ...
Und tatsächlich vernehme ich das Lachen in Grossvaters Kopf. Es ist mir Trost für seine züngelnde, flackernde Lebenskerze, die mir lebenslang in ihrer Weisheit ein Kompass sein, mir die richtige Richtung die ich einzuschlagen habe zeigen wird ...
Und als Bonus ein weiterer DREISATZROMAN aus meiner Feder:
Z Ü N G E L N
Züngelndes Züngeln
Von flammenden
Umklammernden
Tanzenden
Flammen.
Lebenslanges Bangen
Ringen dabei
Singend in
Meinem
Innern.
Lassen
Keine Ruh
Im laufend Leben
Mich an meine Sehnsucht
Nach klarer Wahrheit stets erinnern.
Herzlichst
François Loeb
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