Veröffentlicht: 07.10.2022. Rubrik: Menschliches
Soziale Netzwerke befriedigen Sehnsüchte
Otti meint, dass die beste Zeit ihres Lebens längst vorbei ist.
Früher hatte sie einen eigenen Frisörsalon. Fast alle Damen der Kleinstadt, auch solche, die gar keine Damen waren, suchten regelmäßig ihren Salon auf.
Der Klatsch und die Intrigen blühten unter ihren geschickten Händen.
Ihren großen Gönner Peter hatte sie an ihrem 30. Geburtstag geheiratet. Nachdem sie jahrelang seine Geliebte gewesen war, konnte nach dem Tod seiner Ehefrau das Standesamt beansprucht werden. Inzwischen hatte sie sogar die Meisterprüfung im Friseurgewerbe geschafft. Gewisser Wohlstand breitete sich in der Familie aus.
Während eines Ägypten Urlaubes verstarb Peter plötzlich. So schnell hätte sie mit seinem Ableben nicht gerechnet. Der ehemals feurige Liebhaber war bedächtig geworden. Ein junger Einheimischer hatte ihr den Urlaub versüßt.
Kurzentschlossen nahm sie Mahmoud, der ihr noch bei verschiedenen Besorgungen im Lande behilflich war, mit nach Hause.
Alles ging beinahe seinen gewohnten Gang weiter. Mahmoud wurde die Attraktion im Damensalon. Er wusste, wie er behilflich sein konnte.
Mit der Zeit wollte sie seine ausgefallenen Sexwünsche nicht mehr erfüllen. Irgendwie war der Spaß vorbei. Über seine ständigen Affären sah sie einfach hinweg.
Eines Tages erlitt sie, gerade als sie eine Kundin mit Strähnchen verschönte, einen Schlaganfall. Ihre erste Kraft schaffte es nicht, den Salon standesgemäß weiterzubetreiben.
Mahmoud machte sich ohne Abschied aus dem Staube. Auf einmal war er verschwunden.
Für Otti begann eine schwere und unglückliche Zeit. Den Salon hatte sie günstig verkauft. In ihrem Bungalow lebte sie mithilfe eines örtlichen Pflegedienstes wieder auf.
Sie las mit Vorliebe Liebesromane und schaute viel fern. So schlecht war das Leben nun doch nicht, sagte sie.
Die blutjunge Pflegerin Anni empfahl ihr, sich in einem sozialen Netzwerk für die Generation ab 50 Jahren anzumelden. Dort war etwas los. Täglich kurvte sie stundenlang im Netz herum. Über Gott und die Welt konnte sie sich mit Gleichgesinnten unterhalten. Witze wurden gemacht. Geflirtet wurde Tag und Nacht spielfilmreif.
Das turbulente Treiben war ähnlich wie damals in ihrem Geschäft.
Jetzt baut Otti mutig auf die Zukunft. Ein drei Jahre jüngerer Witwer aus dem sozialen Netzwerk besucht sie statt virtuell auch persönlich. Sie wollen bald zusammenziehen.