Veröffentlicht: 01.09.2022. Rubrik: Unsortiert
Freundinnen
Sommer 1971
Die Sommerferien waren zu Ende, und das dritte Schuljahr hatte begonnen. Annemieke hörte der Lehrerin konzentriert zu, die an der Tafel eine neue Rechenaufgabe erklärte. Zumindest so lange, bis ihre Freundiin und Banknachbarin Babette sie in die Seite stieß und leise fragte: „Wieso ist Mariella nicht da?“
„Krank“, flüsterte Annemieke zurück.
„Dann hat es ja gewirkt“, sagte Babette mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. „Geschieht ihr recht.“ Annemieke kicherte.
Beide Mädchen verstummmten, als die Lehrerin sich umdrehte und sie tadelnd anblickte.
Erst in der Pause, auf dem Schulhof, redeten sie wieder miteinander,
„Dann sind wir also wirklich Hexen“, sagte Annemieke.
„Nicht Hexen. Zauberinnen“, erwiderte Babette.
„Gut, dann Zauberinnen. Meinst du, das reicht?“
„Ich bin dafür, dass wir die Beschwörung nochmal machen. Sie ist so gemein zu dir gewesen.“
„Ja, stimmt.“ Annemiekes Blick wanderte zu den Jungen, die etwas weiter entfernt mit einem Ball spielten und blieb an Jean-Pierre hängen. Er war ihr Freund gewesen, bis sich Mariella dazwischen gedrängt hatte. Seit zwei Wochen war sie, Annemieke, Luft für ihn, und er hatte sich lieber mit Mariella abgegeben. Natürlich war das Mariellas Schuld, und sie musste bestraft werden. Bis zu Mariellas Verrat waren Annemieke, Babette und Mariella die besten Freundinnen gewesen, schon seit dem Kindergarten. Und jetzt hatte Mariella alles zerstört. Babette hatte vorgeschlagen, Mariella einen Zauber anzuhängen, damit ihr etwas Schlimmes passiere. Annemieke war Feuer und Flamme gewesen, und sie hatten sich vor drei Tagen im Wald getroffen, waren um einen Baum herumgetanzt und hatten Beschwörungsformeln gemurmelt, wie „Mariella ist böse, Mariella soll leiden“, „Mariella hat Böses getan, sie soll Böses erleiden“ und einmal hatte Annemieke auch leise „Mariella soll sterben“ vor sich hingemurmelt. Babette hatte behauptet, die Zeremonie aus einem Beschwörungsbuch einer echten Zauberin zu haben, das sie auf dem Speicher im Haus ihrer Eltern gefunden habe. Ihre Ur-Ur-Ur-Großmutter sei eine echte Zauberin gewesen. „Aber wir müssen ganz lange um den Baum herumtanzen und die Formeln aufsagen“, hatte Babette erklärt. „Sonst wirkt es nicht.“
Nach drei Stunden Zeremonie waren die Mädchen völlig erschöpft gewesen. Und jetzt das Ganze noch einmal?
„Warum sollen wir das nochmal machen? Sie ist doch krank. Vielleicht stirbt sie ja.“
„Wenn du willst, dass sie stirbt, müssen wir das auf jeden Fall nochmal machen.“ Sie setzte ein schiefes Grinsen auf. „Willst du wirklich, dass sie stirbt?“
„Wenn sie stirbt, kann sie mir Jean-Pierre nie mehr wegnehmen. Wir machen es noch einmal“, sagte Annemieke entschlossen.
Und so geschah es: Am nächsten Tag trafen sich die beiden Mädchen wieder im Wald, tanzten lange um den Baum herum und sagten die Beschwörungsformeln auf. Und um sicher zu gehen, machten sie zwei Tage später dasselbe noch einmal.
„Das sollte reichen“, fand Babette.
Mariella kam die ganze Woche lang nicht in die Schule. Ende der Woche teilte die Lehrerin den Schülern mit, dass Mariella sehr krank sei und wahrscheinlich nicht mehr in die Schule zurückkehren würde.
„Siehst du? Es hat geklappt“, flüsterte Babette Annemieke triumphierend zu.
Zwei Monate später starb Mariella. Es war eine große Beerdigung. Alle Lehrer, alle Schüler und alle Eltern kamen, der Bürgermeister und auch viele Einwohner der Stadt, die Marietta gar nicht gekannt hatten und über ihren rätselhaften Tod in der Zeitung gelesen hatten. Denn niemand konnte wirklich sagen, an was das fast neunjährige Mädchen gestorben war. Alle weinten auf der Beerdigung, auch Annemieke und Babette.
„Wir dürfen niemandem erzählen, was wir gemacht haben“, sagte Babette später. „Sonst kommen wir ins Gefängnis.“ Und Annemieke und Babette schworen sich, nie wieder davon zu sprechen.
Zwanzig Jahre später (Herbst 1991)
„Es ist ein Mädchen! Herzlichen Glückwunsch!“ Mit einem strahlenden Lächeln legte die Hebamme Annemieke das Baby in den Arm.
„Wie sollen wir es nennen?“ fragte sie Jean-Pierre. Über den Namen waren sie sich bis kurz vor der Geburt nicht einig gewesen.
„Ich möchte es Mariella nennen“, schlug Jean-Pierre vor.
„Mariella?“ Annemiekes Herz zog sich plötzlich zusammen.
„Ja, wir hatten doch mal eine Schulkameradin, die so hieß. Es ist ein schöner Name."
„Ja", murmelte Annemieke. „Aber sie ist gestorben."
„Sei nicht abergläubisch, Schatz." Jean-Pierre strich ihr über die Haare. „Auf unsere Mariella werde ich aufpassen."
„Gut", murmelte Annemieke.
Aber sie wusste, dass eine Erinnerung sie nun nie mehr loslassen würde.