Veröffentlicht: 01.06.2022. Rubrik: Unsortiert
Lächle
„Überall sind Menschen;
alle schauen
gereizt, freundlich, angespannt.
Sie rennen durch die Straßen,
starren geradeaus – auf ihre Handys.
nachdenklich, befriedigt, gehetzt.
Alle leben in ihrer eigenen Welt
sind allein, selbst wenn sie in einer Gruppe sind,
verplant, entspannt, ängstlich.
Lächle die Menschen an,
beobachte,
was passiert?, was verändert sich?“,
seufzend schaltet Sophie die Audio- Datei aus.
Wo hatte sie Charlie denn nun wieder rein gequatscht?
Ihr beste Freundin hatte vor einigen Tagen verkündet, dass sie - Sophie - unbedingt etwas an dem Bereich Positiv Thinking arbeiten müsse.
Das ‚warum‘ war Sophie schleierhaft geblieben. Sie hatte das Gefühl, dass sie mal wieder zu Charlies Projekt geworden war.
Warum mache ich das immer wieder?, fragte sie sich und antwortete direkt selbst, Weil ich sie liebe.
Also gut, dann war ihr Tagesaufgabe offensichtlich Lächeln.
Und das würde sie tun.
Sie vermutete, dass Charlie Spitzel auf sie angesetzt hatte, die kontrollierten, dass Sophie brav an der Selbstoptimierung teilnahm. Denn täte sie es nicht, wüsste Charlie das und ihre Rache würde fürchterlich sein. Früher hatte sie Sophie schon Würmer in den Kaffee getan oder Chilli in ihre Handcreme.
Aber Charlie meinte es immer gut mit ihr und vielleicht würde es ihr ja wirklich gut tun, etwas mehr zu lächeln.
Doch der Gedanke fremde Leute grundlos anzulächeln war ihr schon etwas unangenehm.
Okay, erst mal mit etwas einfachem starten, dachte Sophie sich und trat vor den Spiegel.
Denk an was schönes, befahl sie sich selbst und - tada – ein Lächeln trat in ihr Gesicht. Also ihre Mundwinkel verschoben sich nach oben.
Das zählt, befand sie. Nun müsste es ihr nur gelingen, das auch draußen zu schaffen.
Innerlich setzte sie sich das Ziel fünf Menschen in die Augen zu sehen und zu lächeln … auf dem Weg zur Arbeit. Das sollte möglich sein, immerhin musste sie ganz sieben Stationen mit dem Bus fahren. Da würden schon genug Menschen anzutreffen sein. Auf Arbeit wollte sie das Experiment vorerst nicht durchführen. Dort wollte sie einfach nur ihre Ruhe an ihrem Schreibtisch und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Ja, langsam verstand Sophie, warum Charlie dieses Projekt für sie ausgesucht hatte.
Das Schicksal schien es gut mit ihr zu meinen, an der Ampel hin zur Bushaltestelle traf sie auf eine Kindergartengruppe. Kinder anzulächeln fiel ihr leicht. Und ein paar grinsten sogar zurück.
Hey, das war echt ein schönes Gefühl. So ein Lächeln hatte etwas von einem unverhofften Sonnenstrahl.
Angespornt vom diesem Gefühl befand Sophie, dass die Kinder als eine Person zählen und dass sie das Experiment also noch weiter führen musste.
Die junge Frau an der Ampel war offensichtlich mit den Auge an ihrem Handy festgefroren. Da konnte auch Sophies wärmstes Lächeln nichts ausrichten.
Aber die ältere Dame in der Bushaltestelle erstrahlte regelrecht, als Sophie sie anlächelte. Das kleine Gespräch was auf das Lächeln unweigerlich folgte, fand Sophie als angenehm. Wer hätte gedacht, dass ein paar belanglose Worte über das Wetter so entspannt sein könnten? Normalerweise verkroch Sophie sich in ihr Handy, weil sie solche Gespräche einfach nur nervten.
Dass sie den Busfahrer anlächelte, der das mit einem Kopfnicken quittierte, war für Sophie besonders für ihn wohl weniger.
Eine Person noch… überraschen bemerkte sie, dass sie dieser Gedanke fast traurig machte.
Bisher verlief das Experiment besser als gedacht.
Im Bus starrten wirklich alle auf ihre Handys.
Sophie wollte das Experiment nicht beenden, in dem sie das letzte Lächeln an diese Meute verschwendete.
Und schon war sie an dem Bürokomplex angekommen.
Jetzt wurde Sophie doch wieder unsicher.
Warum sollte sie es übertreiben? Sie konnte doch einfach den Morgen als gute Erfahrung verbuchen.
„Entschuldigung?“, hinter ihr stand ein Mann in Anzug und Krawatte, der sich etwas suchend umsah, „Können Sie mir sagen, ob das hier Jungferstieg 43 ist. Ich glaube ich habe mich verlaufen…“.
Ein Lächeln noch, dachte Sophie und strahlte den Anzugträger an „Nein, sie sind genau richtig. Da vorne, die unscheinbare graue Tür ist der Eingang.“
Auf dem Gesicht des Anzugträgers zeigte sich die Andeutung eines Lächelns.
Und dann stürmte er Richtung Eingang. Er war wohl spät dran, dachte Sophie, wichtige Termine lassen wichtige Laute wohl die Grundregeln der Höflichkeit vergessen. An jedem anderen Tag hätte sie sich wahrscheinlich sehr über den Mann geärgert, doch heute wollte sie sich den angenehmen Morgen nicht davon torpedieren lassen. Das erste Mal seit langem ging gut gelaunt in das Bürohaus.
Für den Vormittag war ein Meeting mit der Geschäftsleitung angesetzt. Es hieß es gäbe große Neuigkeiten.
Wie immer hielt sich Sophie im Hintergrund und betrat als eine der letzten Kolleginnen den Besprechungsraum. ‚Als letzte rein, als Erste raus‘ war ihr Motto für solche Events.
Das Meeting war sehr kurz, sie wurden nur darüber informiert, dass in den nächsten Tagen eine neue Geschäftsleitung das Büro übernehmen werde und es sein konnte, dass einzelne zu einem gebeten werden.
Sophie war sich sicher, dass sie damit nicht gemeint war.
Als sie grade an ihren Schreibtisch zurück kehren wollte, sah sie dort einen Anzugträger stehen. Hatte sie was falsch gemacht? War sie die erste auf der Abschussliste? Sie gehörte zu den jüngeren im Büro, aber eigentlich waren ihre Leistungen doch nicht zu beanstanden. Es gab sicher Kolleginnen, die vor ihr gehen mussten. Sicher, sicher.
Unsicher räusperte sie sich „Entschuldigung?“.
Der Anzugträger dreht sich um und lächelte, diesmal war es ein richtiges Lächeln, wie Sophie registrierte, das sie automatisch erwiderte.
„Das war doch vorhin noch mein Text. Ich wollte mich persönlich bei Ihnen bedanken, dass sie mich davor bewahrt haben, an meinem ersten Tag zu spät zu kommen. Dabei war ich Ihnen gegenüber unhöflich, was sonst nicht meinem Wesen entspricht. Mein Name ist Hendrik Burg und ich bin der neue Büroleiter.“
Sophie konnte nicht anders als weiter lächeln.
„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit einer so freundlichen und fröhlichen Mitarbeiterin und hoffe, dass ich bald Gelegenheit bekomme Sie davon zu überzeugen, dass ich gute Manieren habe“, mit einem Nicken drehte sich Hendrik zum Gehen. Dann schaute er nochmal zurück „Sie sollten ein neues Personalfoto machen lassen, das Lächeln entspricht doch mehr ihrem Wesen, als die Griesgram - Miene“. Mir diesen Worten ging er.
Überrascht blieb Sophie zurück.
Hatte er recht?
Entsprach ihr das Lächeln mehr?
Auf jedem Fall fühlte sie sich besser als an jedem anderen Morgen. Und sie war sicher kein Griesgram.
Ja, sie mochte ihr lächelndes Ich lieber.
Lächelnd dachte Sophie „Danke Charlie!“