Veröffentlicht: 03.04.2022. Rubrik: Menschliches
Der Urgroßonkel in Ostpreußen
Mein Urgroßonkel hatte in Ostpreußen einen kleinen Bauernhof. Es wird wohl nicht der größte weit und breit gewesen sein, aber doch war es so, dass er als der Ältere den Hof geerbt hatte. Sein Bruder wurde Zimmermann und zog in die Stadt.
Wenn der Urgroßonkel nun seinen Bruder besuchen wollte, so hatte er einen Fußmarsch vor sich, der sich über den ganzen Tag hin zog. Immer wieder wurde in der Familie davon gesprochen, wie er nun für den ganzen langen Weg nur eine Seite Speck und eine Flasche Kornschnaps als Wegzehrung mit sich trug.
Möglicherweise hat es sich so zugetragen:
Ich habe mir diesen Mann immer vorgestellt, wie er in derben Kleidern und festem Schuhwerk am Rande eines ausgefahrenen Feldweges erhitzt und erschöpft auf einem grauen, großen Findling sitzt, die Mittagssonne im Gesicht.
Nun nimmt er aus der einen Tasche seiner Jacke ein großes Taschentuch und wischt sich den Schweiß von Gesicht und Stirn, dabei wohl ein wenig ächzend. Alsdann nimmt er den Beutel von seiner Seite - den er schräg umhängen hat - und stellt ihn vor sich hin, zwischen die Füße mit den derben, aber bequemen Schuhen. Während er das große, nun etwas feuchte, Taschentuch in die linke Hosentasche schiebt, greift er schon mit der Rechten nach der grünen gekorkten Flasche und nach dem Päckchen, welches in sauberes Sackleinen gehüllt, einen vielversprechenden herzhaften Duft verströmt. Die Flasche bleibt am Boden zwischen den Füßen, das Päckchen wandert auf den Schoß.
Sorgfältig wird das Leinen von der Hanfkordel befreit, auseinander gebreitet und gibt nun die duftende Speckseite (leicht durchwachsen), in fettiges Zeitungspapier gewickelt, frei. Rasch ist das Papier ausgebreitet und die Rechte wandert in die Hosentasche, um ein kleines scharfes Messer mit leicht gebogener Klinge und scharfer Spitze hervor zu holen. Schon gleitet das Messer durch den leicht rosa schimmernden Speck um einen gut mundgroßen dicken Streifen abzuziehen. Die Schneide gleitet wie durch Marzipan... Zwischen Finger und Messer gleitet der Happen auf die Zunge. Mit Genuss kauend legt er das Schneidwerkzeug zu der Speckseite auf Papier und Sacktuch - die Knie schön zusammen führend, auf das nichts entgleite.
Nun bückt er sich, noch immer den leicht salzigen Geschmack und den mürben Biss genießend, hinab zu der (nicht eben kleinen) Flasche. Mit einem angenehm tiefen Plopp zieht er den Korken, legt ihn zum Messer. Schon setzt er die Flasche an den Mund - aber nicht ohne vorher mit der Nase das verführerische Aroma des klaren, reinen Schnapses überprüft zu haben. Nun rinnt das scharfe Getränk auf die Zunge, in den Mund, um sich mit zart schmelzendem, leicht salzigem Fett zu mischen und - auf
das Köstlichste vereint - die Strosse hinab zu gleiten. Ein Laut des Genusses entringt sich seiner Kehle!
Wohl vier-, fünfmal wiederholt sich der Vorgang. So sorgfältig es ausgepackt, so genau und langsam wird alles wieder eingepackt und verstaut an seinen Platz. Mit dem Taschentuch wird das letzte Fett von den Fingern gewischt, er reckt und streckt sich, steht auf, setzt beschwingt und zufrieden seinen Weg fort. Er ist ein glücklicher
Mann! Leicht ist ihm der Weg unter den Füßen. Der Proviant reicht für weitere Stärkungen, vielleicht alle Stunde eine, hinreichend aus.
Noch vor Einbruch der Dämmerung wird er die Stadt erreichen, den Bruder und dessen Familie wiedersehen. Was wird das für eine Freude werden! Was wird man sich alles zu erzählen haben! Er tastet nach dem Beutel. Ja, sie ist noch da - die andere gut verpackte, fest verkorkte grüne Flasche. Sie ist für den Bruder - die Hälfte zumindest...