Veröffentlicht: 03.07.2018. Rubrik: Grusel und Horror
Über Schuld, Reue und das Gewissen
Wie kann ich der Sinnlosigkeit allen Seins entkommen? Gibt es etwas, das mich glücklich macht? Dies fragte ich mich, verehrter Leser. Liebe ist eine Lüge! Moral existiert nicht! Es gibt keinen Frieden, nur Hass! Es gibt keine Gerechtigkeit, da alles dem Prinzip des Zufalls untergeordnet ist. Wie kann man der Sinnlosigkeit einen Sinn abgewinnen? Dunkelheit, nur Dunkelheit, sonst nichts.
Regeln und Gesetze binden uns. Sie verhindern die Entfaltung der menschlichen Triebe, seiner niedersten Bedürfnisse. Doch ich wollte frei sein, frei von jeglichen Einschränkungen, frei von allen Normen und gesellschaftlichen, moralischen Zwängen. Ich begriff, dass die einzige weltliche Ordnung die Unordnung ist, Chaos die einzige Konstante und dass man in dieser grausamen Welt viel besser ohne Regeln lebt. Und weißt du, der da diese Zeilen liest, worin der Sinn in meinem Leben bestand? Darin, die Abgründe der menschlichen Existenz zu erkunden. Darin, zu zeigen, dass alles Bestreben nach Gerechtigkeit, Liebe und Ordnung vergebens ist! Der Mensch sollte niemals eingeschränkt werden, das wollte ich zeigen. Es gibt nichts, woran es sich zu glauben lohnt, außer dem Glauben an sich. Also tat ich, was ich schon immer hatte tun wollen. Wenn nicht jetzt, wann dann, dachte ich mir. Es war Zeit meine Bestimmung zu erfüllen. Dies, verehrter Leser, ist meine Geschichte.
Mein Vater war ein törrichter alter Mann. Geschwächt von seiner Krankheit, verbrachte er den ganzen Tag nur im Bett. Wir wohnten alleine zusammen. Ich pflegte ihn, war ihm ein guter Sohn. Es war nie sein vieles Geld, nach dem ich mich sehnte. Es war nie seine Zuneigung, an der es mir mangelte. Wahrlich, da ich ihm stets ein guter Sohn war, so hatte er mich doch in sein Herz geschlossen, so sagte er jedenfalls. Doch Liebe ist eine Lüge!
Seine Zuneigung bedeutete mir nichts. Ich pflegte ihn nur aus mir schleierhaften Gründen, solche, die ich nicht begriff. Irgendetwas schien mich zu steuern, unbewusst zu diesen Handlungen zu drängen. Ich pflegte den Kranken aus krankhaften Motiven des Mitleids. Unbegreiflich, wie ich dies freiwillig tun konnte. Doch "freiwillig" ist die falsche Bezeichnung. Letztendlich tat ich all dies nicht aus freien Stücken, sondern weil der innere Richter mich dazu gezwungen hat. Nun, verehrter Leser ist es wohl kaum erwähnenswert, dass mir diese Tatsache missfiel. Wollte ich doch frei von allen Hemmungen und Einschränkungen leben! Ich muss etwas tun, womit ich mich nicht identifizieren kann und das musste schleunigst aufhören, denn ich selber wollte verantwortlich für mein Handeln sein, indem ich es mir bewusst aussuchte.
Doch meine Regeln, die mich selbst fesselten, hielten meine menschlichen Instinkte zurück. Ich fürchtete weder Strafe noch Tod. Ich fürchtete einzig und allein die Macht des inneren Richters. Ich fürchtete meines inneren Richters Undurchschaubarkeit. Die Angst vor ihm, der da hauste in den Tiefen meines dunklen Verstandes, hielt mich zurück. Doch wusste ich genau, dass diese Angst ich zu überwinden hatte. Um der Freiheit willen! Um mich von meinen Fesseln zu lösen, um meinen Moralkodex Lügen zu strafen! Denn ich wollte im Recht sein und nicht gegen den inneren Richter das Nachsehen haben. Meine Lebensaufgabe bestand darin, zu beweisen, dass Moral eine Lüge ist. Damit wollte ich die Sinnlosigkeit allen Seins beweisen. Und ich wusste genau, was ich dafür tun musste und auch, wie ich es zu tun hatte!
Es war alles so klar vor mir. In Gedanken ging ich den genauen Ablauf mehrere Male durch. Im Geiste war ich schon immer frei, einzig mein Denken und mein Handeln musste ich in Einklang bringen, um somit zur absoluten Freiheit zu gelangen, nach der ich mich so sehnte. Endlich das tun, was ich mir in Gedanken so oft ausgemalt! Endlich frei sein und den inneren Richter schlagen!
Mein Vater spielte in diesen Überlegungen eine zentrale Rolle. Er sollte das Instrument darstellen, welches mich in die Freiheit führte, welches mich erlöst vom Leid, welches meine Fesseln löst. Doch schildern werde ich meine Gedanken nicht. Ich spreche nicht gerne über Pläne. So lasset uns gemeinsam betrachten, was ich tat, anstelle von dem, was ich dachte. Taten sind immer wichtiger als Worte. Und ich versichere dir, verehrter Leser, ich ließ zu jener Zeit Taten folgen. Nun, jedem würde ich diese Geschichte zweifellos nicht erzählen, doch schweigen darf ich nicht länger, jedenfalls noch nicht. Dein Gemüt wird dies verkraften, dessen bin ich sicher! Nun höre, was ich zu sagen habe. Dies ist meine Geschichte!
Was wäre wohl die geeigneteste Tat, um die Standhaftigkeit des inneren Richters herauszufordern, fragte ich mich. Nun, lange musste ich nicht überlegen. Ich wusste, was zu tun war. Hatte ich es nicht schon immer gewusst? Wenn eines gegen die Ordnung, gegen die Gesellschaft verstößt, dann ist es Mord! Als abscheulich empfunden von all den Scheinheiligen und doch ist es etwas urmenschliches. Ich nahm mir vor, nicht länger zu verbergen, wer wir in Wahrheit sind. Ich verstand mich selber als Kämpfer für die Freiheit des Menschen. Der zivilisierte Mensch hat vergessen, was es heißt, Mensch zu sein. Die Zivilisation hat ihn abgestumpft, regelrecht einer Gehirnwäsche unterzogen. Um meine Andersartigkeit zu demonstrieren, entschied ich mich, die Tat durchzuführen. Nichts konnte mich mehr aufhalten. Mein Entschluss stand fest!
Was ist die beste Art ein Leben zu beenden, fragte ich mich. Nun, lange musste ich nicht überlegen. Ich wusste, was zu tun war. Hatte ich es nicht schon immer gewusst? Das Opfer darf nicht damit rechnen, muss überrascht werden. Am besten war der Mörder ein nahestehender Mensch. Mord alleine reicht nicht. Der Mensch muss unverhofft und mit aller Gewalt aus dem Leben gerissen werden. Und es musste ohne Waffen geschehen. Waffen sind primitiv, ehrenlos. Es geht einfach zu schnell, dabei muss der Prozess des Mordens vollständig genossen, die Überlegenkeit bis zuletzt ausgekostet werden. Waffen sind ehrenlos, merk dir das, verehrter Leser, solltest du in die gleiche Situation geraten wie ich, wenn du für etwas kämpfst und keine andere Möglichkeit hast, als zu morden! Nicht um des Opfer, sondern um des Täters willen, denn dieser ist es, der seine Ehre bewahren muss! Nur so wird der innere Richter herausgefordert!
Nun, wie bereits angedeutet, traf alles auf eine bestimmte Person zu. Ich hatte mein Opfer bereits ausgewählt, noch bevor es mich als potentiellen Täter überhaupt ausmachen konnte, so glaubte ich jedenfalls. Es war mein Vater, musste mein Vater sein. Nicht etwa, weil ich ihn hasste. Das zwar auch, doch in erster Linie, weil es so vorherbestimmt war. Der alte Mann war krank, wofür sollte er also noch leben? Seine einzige Funktion war, seinem Sohn die Erfüllung seines Schicksals zu ermöglichen. Nur dafür war der Kranke so lange am Leben geblieben. Also, sprach ich, so soll es geschehen!
An jenem verhängnisvollen Abend sollte es geschehen. Ich spürte es! Wie immer brachte ich dem alten Mann das Essen ans Bett. Müde und schwach war er. Alleine aufstehen, konnte er nicht mehr. Seine Haut war grau und faltig, die blassen Augen eingefallen. Ich setzte mich an die Bettkante und beobachtete die armselige Gestalt beim Essen mit wachsamen Augen. Als mein Vater geendigt hatte, nahm ich das Tablett mit dem leeren Teller in Empfang und stellte es auf die Kommode neben dem Bett. Der Alte sah mich und ich ihn an.
"Du bist so gut zu deinem Vater", sprach er mit zittriger Stimme. Noch bin ich das, dachte ich. Wie konnte der Kranke immer noch denken, dass ich ihn freiwillig pflegte? Mein Handeln war nicht auf die Güte meines Herzens zurückzuführen, sondern einzig und allein auf den inneren Richter, der mich wahrlich dazu zwang. Doch damit sollte es jetzt ein Ende haben, verehrter Leser, denn ich wollte mir nicht länger Vorschriften machen lassen, von niemandem, nie mehr! Auch wenn alles Sein sinnlos ist, so wollte ich doch zumindest frei sein. Einfach um selber über mein Schicksal bestimmen zu können. Nach einer längeren Pause sagte ich schließlich: "Du siehst müde aus, alter Mann."
Der Kranke versuchte ein Lächeln aufzusetzen, was ihm jedoch nicht gelang.
"Ich werde bald sterben, mein Sohn."
"Hast du keine Angst vor dem Tod, alter Mann?"
Der Alte blickte wieder zu mir hoch. Tatsächlich hatte ich diese Frage nicht aus gespieltem, sondern aus wahrhaftigem Interesse gestellt. Der Alte stammelte vor sich hin. Das Sprechen viel ihm sichtlich schwer und dennoch verstand ich jedes seiner Worte.
"Nein. Ich bin jederzeit bereit zu sterben. Sollte dies mein letzter Tag sein, so soll es geschehen! Ich bereue nichts, habe mein Leben frei und meinen Vorstellungen entsprechend gelebt. Nicht immer ist mir alles gelungen und dennoch konnte ich viele meiner Träume verwirklichen. Ich kann mir nichts vorwerfen, da ich aus meinen Möglichkeiten und Anlagen stets das Beste gemacht habe. Ich habe mein Talent nicht verschwendet und mein Potential voll ausgeschöpft. Ich bin mit mir selbst im Reinen, habe inneren Frieden gefunden und ein sehr glückliches Leben geführt. Wenn die Zeit kommt, so werde ich diese Welt glücklich und zufrieden verlassen. Ich bin frei!"
Es dauerte eine Ewigkeit bis mein Vater diese Worte ausgesprochen hatte, doch gebannt hörte ich ihm bis zuletzt zu. Er war ein sehr erfolgreicher Dichter und Philosoph, doch diese Zeit war vorüber. Nur noch ein Schatten seiner selbst war er. Und dennoch fühlte er sich frei, obwohl er doch an gewisse äußere Faktoren wie seine schwere Krankheit gebunden war. Ich begriff nicht! Wie konnte er trotz dessen noch glücklich sein? Während ein solch gesunder, attraktiver junger Mann wie dein getreuer Erzähler so unglücklich war? Es musste am inneren Richter liegen. Ja, dies war ganz sicher der einzige Grund für meine Unzufriedenheit! Und ich wusste, was ich dagegen tun konnte. Schon bald würde ich frei und glücklich sein und somit der allgemeinen Sinnlosigkeit des Daseins trotzen.
"Wenn das so ist, werde ich den Tod herbeiführen, alter Mann", antwortete ich endlich.
"Nur zu, mein Junge. Ich wusste schon immer, dass du es eines Tages tun würdest."
Das überraschte mich. Ich würde also überrascht, ich der Täter und nicht er, das Opfer obwohl es eigentlich so hätte sein müssen. Er hatte also doch schon mit allem gerechnet.
"Sage mir, woher du das wusstest, und dann werde ich deinem elenden Leben ein Ende bereiten, alter Mann!"
"Auch wenn ich mir nie etwas anmerken ließ, sah ich jeden Tag diesen Durst in deinen Augen. Diese unstillbare Gier! Deine hasserfüllten, unglücklichen Augen haben dich verraten. Die Zeit ist gekommen, mein Sohn. Erfülle deine Bestimmung!"
"Der Sohn muss den Vater töten. Um der Freiheit willen!"
Die Zeit des alten Mannes war abgelaufen, so wie die Zeit eines jeden von uns irgendwann abgelaufen ist. Der Tod nahte, das Ende. Und je länger ich in dieses kranke Gesicht blickte, desto größer wurde der Hass auf meinen Vater. Ich beneidete ihn dafür, dass er Freiheit und inneren Frieden im Gegensatz zu mir schon erlangt hatte. Meine eigene Sehnsucht nach eben jener Freiheit stieg mit jeder Sekunde an.
"Du wirst für einen guten Zweck sterben. Dir nehme ich das Leben, um es mir selber einzuhauchen. Ich muss dich deiner Freiheit berauben, um meine eigene zu erlangen. Leb wohl, alter Mann", sagte ich, als ich meinem Vater das Kissen unter dem Kopf wegzog und sein Kopf hart auf der Bettkante aufschlug. Er wehrte sich nicht und starrte mich nur an. Seine wässrigen Augen waren ganz ruhig, so ruhig wie das Meer an einem schönen Sommertag. Tatsächlich keine Anzeichen von Angst, Reue oder Fassungslosigkeit. Dieser innere Friede, den mein Vater ausstrahlte und mir fehlte, machte mich wütend. Ich begann innerlich zu brodeln. Meine wilden Augen blickten in seine ruhigen und die Wut übermannte mich endgültig.
"Versuch es nur", waren des alten Mannes letzten Worte, bevor ich das Kissen mit aller Gewalt gegen sein Gesicht presste. Nur seine Augen ließ ich unbedeckt, denn ich wollte sehen, wie die Ruhe der Verzweiflung und Panik wich. Ich wollte sehen wie das Licht in seinen Augen für immer erlischt. Doch nichts dergleichen geschah. Ich drückte dem Kranken langsam aber sicher mit dem Kissen die Luft ab und dennoch sahen seine Augen mich nach wie vor seelenruhig an. Es regte sich nichts. Unheimlich war das, verehrter Leser, sehr unheimlich. Im Angesicht des Todes, seinem Peiniger gegenüberstehend, leistete der alte Mann nicht den Geringsten Widerstand. Er bemühte sich gar nicht, mich von meinem teuflischen und unmoralischen Vorhaben abzubringen. Er wusste, dass er nichts ändern konnte und ließ es daher einfach geschehen. Statt den Tod zu fürchten, begrüßte er ihn.
Ich musste meine Niederlage eingestehen. Der alte Mann würde die Welt im Einklang mit sich und überhaupt allem verlassen und daran konnte ich bedauerlicherweise nichts ändern. Mein Vorhaben, ihn wahrlich aus dem Leben zu reißen und mit Bedauern sterben zu lassen, damit er so viel wie möglich leidet, war gescheitert. Also setzte ich zum erlösenden Todesstoß an. Ich stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht auf das Kissen und mein Vater bekam endgültig keine Luft mehr. In dieser Position verharrte ich einige Sekunden und mein Vater schloss die Augen. Somit konnte ich nicht einmal sehen, wie sein Blick starr und leer wurde. Auch das war mir nicht vergönnt, was wurde ich nur gedemütigt!
Glücklicherweise aber schwieg der innere Richter und das war schließlich die Hauptsache. Wenigstens gegen ihn hatte ich gesiegt, wenn ich es schon gegen meinen Vater nicht geschafft hatte. Nun war es vollbracht. Ich löste den Druck und warf das Kissen beiseite. Der alte Mann war tot. Umgekommen durch meine Hand (ganz ohne Waffen, denn Waffen sind ehrenlos, merke dir das verehrter Leser). Ich war endlich frei!
Müde aber erleichtert nahm ich auf dem Stuhl Platz, der neben dem Bett stand. Dabei stieß ich in meinem Rausch versehentlich das Tablett um, welches ich zuvor auf der Kommode abgestellt hatte. Scheppernd fiel es zu Boden und ich stolperte beinahe darüber, aber nur beinahe. Ich lehnte mich schwer atmend gegen die Rückenlehne des Stuhles. Einen Mord zu begehen ist wirklich anstrengend, harte Arbeit. Mit ruhigen Augen betrachtete ich die Leiche meines Vaters, die da lag auf dem Bett vor mir. Jetzt war ich doch froh, dass er kurz vor seinem Ableben doch noch die Augen geschlossen hatte, denn glücklicherweise musste ich sie nicht mehr sehen. Ich bezweifelte, ob ich den Anblick ertragen hätte.
Mein Kopf war leer, ich wusste nicht, was ich als nächstes hätte tun können. Ich musste mich nur erholen, das war alles! Bald würde ich auch wieder klar denken können. Doch ein noch unerfahrener Mörder, wie es dein getreuer Erzähler war, musste das alles zunächst verarbeiten. Das ist schließlich normal nach so einer Anstrengung, dachte ich. Schließlich brachte man ja nicht jeden Tag seinen Vater um. Ich war mir auch nicht sicher, ob es überhaupt genug Väter geben könnte, um meinen Durst zu stillen. Also beschloss ich zu warten. Nichts als warten würde mir helfen.
Doch, worauf wartete ich eigentlich? Warum tat ich dies alles? Da fiel es mir wieder ein! Ich wartete auf die Erlösung, auf den inneren Frieden, darauf, dass ich endlich glücklich wurde. Ich hatte beseitigt, was meinem Glück im Wege stand, ich hatte den inneren Richter besiegt. Folglich mussten sich meine Fesseln bald lösen, jeden Augenblick musste es soweit sein. Dann wäre ich frei. Alles, was ich jemals sein wollte. Frei, einfach nur frei.
Also saß ich in dem Stuhl und wartete. Die Freiheit würde sich zu erkennen geben, ganz von alleine, dessen war ich sicher. Ich würde spüren, wenn es soweit war, ganz sicher.
Die Zeit verging und es tat sich nichts. Die Uhr im Zimmer tickte unaufhörlich. Ich warf einen nervösen Blick auf das Ziffernblatt und stellte erstaunt fest, dass ich bereits sechs Stunden einfach nur still dasaß, ins Nichts schaute, über eine Leiche wachte und die Freiheit immer noch nicht eingetroffen war.
Es war Mitternacht! Die Uhr schlug zwölf. Draußen hörte ich das Läuten der Glocken des Kirchturms. Und ich saß alleine in der dunklen Kammer, zusammen mit einer Leiche. Auf einmal wurde mir elend zumute. Mein Herz schlug schneller, ich schwitzte, der Blutdruck stieg. Merkwürdig, dachte ich, so hatte ich doch zuvor die ganze Zeit über nichts dergleichen gespürt. Vielleicht war es auch ein gutes Zeichen. Vielleicht kam in diesem Augenblick die Freiheit über mich. Sie schlug sich in körperlichen Symptomen nieder. Gleich würde es mir dafür richtig gut gehen. Gleich würde ich wissen, was es heißt, glücklich und frei zu sein. Doch anstatt abzufallen, stieg die Anspannung immer weiter. Was war nur mit mir los?
Unruhig wippte ich auf meinem Stuhl hin und her. Vorsichtig warf ich der Leiche des alten Mannes einen Blick zu, nur um sicherzustellen, dass sie noch da war. Man konnte ja nie wissen. Und sie war noch da, doch etwas war anders. Sehr anders sogar.
Ich erschrak heftig, denn ob du es mir glaubst oder nicht, verehrter Leser, die Augen des Toten waren plötzlich weit geöffnet. Die gleiche Ruhe lag in seinen blassen Augen, wie zu dem Zeitpunkt seines Todes. Doch war ich mir nicht sicher, dass die Augen zuvor geschlossen waren? Hatte ich das nicht gesagt? Jetzt wusste ich nur noch eines, die Augen waren in diesem Moment definitiv geöffnet.
Vor Schreck fiel ich beinahe vom Stuhl, konnte mich aber noch rechtzeitig festhalten. Die Glocken in der Kirche läuteten immer noch. 10, 11, 12. Es war vorbei! Mitternacht, ich war alleine mit einer Leiche, deren Augen geöffnet waren. Doch es kam tatsächlich noch schlimmer!
Es geschah etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte, nicht in meinen schlimmsten Albträumen. Die Augen waren wahrscheinlich die ganze Zeit geöffnet. Ich hatte mir vermutlich nur eingebildet, der alte Mann hätte sie geschlossen. Doch der Tote drehte plözlich den Kopf in meine Richtung und das war keine Einbildung, glaube mir verehrter Leser! Die Leiche starrte mich mit ruhigen Augen an. Die Augen traten aus ihren Höhlen hervor, der Mund verzerrte sich zu einer fürchterlichen unbeschreiblichen Grimasse. Da fehlten gar mir die Worte. Die ohnehin schon verschrumpelte Haut nahm unmenschliche Falten an. Ich regte mich nicht, konnte mich nicht regen. Meine Kinnlade klappte herunter, in meinen Augen lag blankes Entsetzen und unvorstellbare Angst. Das Herz in meiner Brust raste so sehr, dass es wahrlich zu bersten drohte.
"Was ist das für ein Spiel", schrie ich verzweifelt auf, als ich endlich in der Lage war. einen Ton hervorzubringen. Auf dem Stuhl hielt mich nichts mehr. Sobald ich fähig war mich zu rühren, sprang ich auf und wich einige Meter zurück. Ich presste mich mit dem Rücken gegen die kalte Wand, den Toten nicht aus dem Blick lassend.
"Ich komme wieder, dich zu richten, mein Sohn", sprach der Tote. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, doch ich versichere dir verehrter Leser bei allem was mir heilig ist, es ist wahr! Der Tote erhob sich aufreizend langsam und kam auf mich zu. Erst jetzt fiel mir auf, dass er eine Perücke auf dem Kopf trug. War sie etwa die ganze Zeit da, ich konnte mich beim besten Willen nicht entsinnen. Ich war einfach nicht mehr zurechnungsfähig.
Mein Vater streckte seine verfaulte und verblichene Hand nach mir aus. Die Fingernägel waren abgefallen, die Haut hatte eine nicht definierbare unfassbar ekelhafte Farbe angenommen und doch sah ich, wie die violett angelaufenen Adern zu pulsieren begannen. Der Tote lebte! Es war alles real!
Aus meinem Gesicht wich jegliche Farbe. Die Beine wurden so weich, dass sie die Last meines Körpers nicht mehr trugen und ich an der Wand zusammensackte. Verzweifelt wie ich war stammelte ich: "Aber, du, du bist tot. Ich habe den alten Mann umgebracht. Wie? Wie nur ist dies möglich?"
Der Tote entgegnete mit seiner krächzenden, nicht mehr menschlichen Stimme: "Ich lebe in dir weiter, mein Sohn. Ich werde immer in dir weiterleben, dich heimsuchen und schänden! Du kannst dich mir nicht widersetzen! Ich bin jetzt ein Teil von dir, versteckt in deinem Unterbewusstsein und ich werde dich niemals in Ruhe lassen, niemals! Nie mehr wirst du Frieden finden, mein Sohn! Ich folge dir auf Schritt und Tritt. Du bist nicht alleine!"
Das hat mir endgültig den Rest gegeben. Da ich den Anblick meines Vaters, besonders seiner ruhigen Augen nicht länger ertragen konnte, schloss ich die meinen und kniff sie fest zusammen, sodass sie auch bloß geschlossen blieben. Ich spürte, wie die kalte Hand meinen Hals umklammerte, nahm den verfaulten übel riechenden Atem des Toten wahr, dessen Gesicht sich direkt vor meinem befinden musste. Das Verlangen, die Augen zu öffen, war groß, doch ich blieb standhaft. Mein Vater vergönnte es mir nicht zu sehen, wie das Licht des Lebens aus seinen Augen wich, als ich ihn ermordete, also wollte ich ihm diesen Triumph auch nicht gönnen. Sein Griff wurde fester und mir blieb die Luft weg. Ich wurde ohnmächtig.
An dieser Stelle sollte meine Geschichte enden, könnte man meinen, doch dem ist nicht so. Schließlich bin ich doch noch hier, um diese Geschichte zu erzählen.
Tatsächlich wachte ich einige Stunden später wieder auf. Es war nach wie vor mitten in der Nacht. Zunächst wusste ich nicht, wo ich war, doch dann fiel es mir wieder ein und ich erschauderte. Ich lag auf dem Boden, vor mir der umgekippte Stuhl und das Tablett, das auf den Boden gefallen war. Als ich wieder zu mir kam sprang ich wie von der Tarantel gestochen auf. Wo war er? Befand er sich noch in diesem Raum? Ich erblickte ihn nirgends, was mich nur noch mehr ängstigte. Irgendwo, so war ich mir sicher, lauerte er und wartete nur darauf, dass er meinem Leben endlich ein Ende bereiten konnte. Freiheit würde ich niemals finden. Das hatte ich jetzt aufgegeben. Es war mir einfach nicht vergönnt. Der innere Richter hatte doch gesiegt. Dann sah ich die Leiche meines Vaters. Sie lag auf dem Bett. Die Augen waren geschlossen. Und da begriff ich endlich! Alles was ich wollte, war Ruhe. Ewige Ruhe. Nie mehr konnte ich jetzt inneren Frieden und Glück finden. Nie mehr!
Ich wollte nicht länger mit meiner Schuld leben, denn so lange ich am Leben war, würde mein Vater mich heimsuchen, genauso wie er es angekündigt hatte. Es zerfraß und zerriss mich innerlich und aus all dem Unheil gab es kein Entrinnen. Es war vorbei! Mir wurde in diesem Augenblick mehr als je zuvor die Sinnlosigkeit allen Seins bewusst. Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass Hass und Zerstörung dem Leben einen Sinn gibt? Nichts macht Sinn, einfach nichts! Letztendlich ist auch das, genau wie alles andere, eine Lüge! Und zu sprechen über meine Schuld änderte nichts, also musste ich über das Unaussprechliche schweigen.
Ich wusste was zu tun war, hatte ich es nicht tief in meinem inneren immer gewusst? Wie konnte man der Sinnlosigkeit entrinnen? Ganz einfach, indem man das irdische Leben hinter sich lässt. Was tat ich also, verehrter Leser? Ich begab mich zum Fenster, öffnete es. Nicht länger konnte ich mit meiner Reue leben, also schrie ich so laut ich konnte in die finsterste Nacht: "Ich war es! Ich habe ihn getötet! So verzeihet mir doch, so verzeihet mir doch! Ich wusste nicht, was ich tat! Ich bin schuldig! Der innere Richter hat gewonnen! Ich habe meinen Vater getötet! Doch ich wurde gezwungen, gezwungen von der inneren Motivation etwas zu finden, was es gar nicht gibt! Freiheit ist eine Lüge! So verzeihet mir doch!"
Mit diesen Worten sprang ich voller Überzeugung mit dem Kopf voran in die Dunkelheit. Am Ende sah ich Licht. Alles wurde hell!
An dieser Stelle fragst du dich verehrter Leser bestimmt, wie ich trotzdem diese Geschichte erzählen kann. Nun, ich sitze hier, in einem Gerichtssaal und werde gerade just in diesem Augenblick zur Rechenschaft gezogen. Hier tragen alle Perücken. Mein Vater ist übrigens auch hier. Und warum erzähle ich ausgerechnet dir meine Geschichte? Weil du der Richter bist, der das Urteil fällen muss und über mich zu richten hat. Das ist deine Aufgabe. Alles was mir bleibt ist Schweigen. Ich habe nichts mehr zu sagen!Wie kann ich der Sinnlosigkeit allen Seins entkommen? Gibt es etwas, das mich glücklich macht? Dies fragte ich mich, verehrter Leser. Liebe ist eine Lüge! Moral existiert nicht! Es gibt keinen Frieden, nur Hass! Es gibt keine Gerechtigkeit, da alles dem Prinzip des Zufalls untergeordnet ist. Wie kann man der Sinnlosigkeit einen Sinn abgewinnen? Dunkelheit, nur Dunkelheit, sonst nichts.
Regeln und Gesetze binden uns. Sie verhindern die Entfaltung der menschlichen Triebe, seiner niedersten Bedürfnisse. Doch ich wollte frei sein, frei von jeglichen Einschränkungen, frei von allen Normen und gesellschaftlichen, moralischen Zwängen. Ich begriff, dass die einzige weltliche Ordnung die Unordnung ist, Chaos die einzige Konstante und dass man in dieser grausamen Welt viel besser ohne Regeln lebt. Und weißt du, der da diese Zeilen liest, worin der Sinn in meinem Leben bestand? Darin, die Abgründe der menschlichen Existenz zu erkunden. Darin, zu zeigen, dass alles Bestreben nach Gerechtigkeit, Liebe und Ordnung vergebens ist! Der Mensch sollte niemals eingeschränkt werden, das wollte ich zeigen. Es gibt nichts, woran es sich zu glauben lohnt, außer dem Glauben an sich. Also tat ich, was ich schon immer hatte tun wollen. Wenn nicht jetzt, wann dann, dachte ich mir. Es war Zeit meine Bestimmung zu erfüllen. Dies, verehrter Leser, ist meine Geschichte.
Mein Vater war ein törrichter alter Mann. Geschwächt von seiner Krankheit, verbrachte er den ganzen Tag nur im Bett. Wir wohnten alleine zusammen. Ich pflegte ihn, war ihm ein guter Sohn. Es war nie sein vieles Geld, nach dem ich mich sehnte. Es war nie seine Zuneigung, an der es mir mangelte. Wahrlich, da ich ihm stets ein guter Sohn war, so hatte er mich doch in sein Herz geschlossen, so sagte er jedenfalls. Doch Liebe ist eine Lüge!
Seine Zuneigung bedeutete mir nichts. Ich pflegte ihn nur aus mir schleierhaften Gründen, solche, die ich nicht begriff. Irgendetwas schien mich zu steuern, unbewusst zu diesen Handlungen zu drängen. Ich pflegte den Kranken aus krankhaften Motiven des Mitleids. Unbegreiflich, wie ich dies freiwillig tun konnte. Doch "freiwillig" ist die falsche Bezeichnung. Letztendlich tat ich all dies nicht aus freien Stücken, sondern weil der innere Richter mich dazu gezwungen hat. Nun, verehrter Leser ist es wohl kaum erwähnenswert, dass mir diese Tatsache missfiel. Wollte ich doch frei von allen Hemmungen und Einschränkungen leben! Ich muss etwas tun, womit ich mich nicht identifizieren kann und das musste schleunigst aufhören, denn ich selber wollte verantwortlich für mein Handeln sein, indem ich es mir bewusst aussuchte.
Doch meine Regeln, die mich selbst fesselten, hielten meine menschlichen Instinkte zurück. Ich fürchtete weder Strafe noch Tod. Ich fürchtete einzig und allein die Macht des inneren Richters. Ich fürchtete meines inneren Richters Undurchschaubarkeit. Die Angst vor ihm, der da hauste in den Tiefen meines dunklen Verstandes, hielt mich zurück. Doch wusste ich genau, dass diese Angst ich zu überwinden hatte. Um der Freiheit willen! Um mich von meinen Fesseln zu lösen, um meinen Moralkodex Lügen zu strafen! Denn ich wollte im Recht sein und nicht gegen den inneren Richter das Nachsehen haben. Meine Lebensaufgabe bestand darin, zu beweisen, dass Moral eine Lüge ist. Damit wollte ich die Sinnlosigkeit allen Seins beweisen. Und ich wusste genau, was ich dafür tun musste und auch, wie ich es zu tun hatte!
Es war alles so klar vor mir. In Gedanken ging ich den genauen Ablauf mehrere Male durch. Im Geiste war ich schon immer frei, einzig mein Denken und mein Handeln musste ich in Einklang bringen, um somit zur absoluten Freiheit zu gelangen, nach der ich mich so sehnte. Endlich das tun, was ich mir in Gedanken so oft ausgemalt! Endlich frei sein und den inneren Richter schlagen!
Mein Vater spielte in diesen Überlegungen eine zentrale Rolle. Er sollte das Instrument darstellen, welches mich in die Freiheit führte, welches mich erlöst vom Leid, welches meine Fesseln löst. Doch schildern werde ich meine Gedanken nicht. Ich spreche nicht gerne über Pläne. So lasset uns gemeinsam betrachten, was ich tat, anstelle von dem, was ich dachte. Taten sind immer wichtiger als Worte. Und ich versichere dir, verehrter Leser, ich ließ zu jener Zeit Taten folgen. Nun, jedem würde ich diese Geschichte zweifellos nicht erzählen, doch schweigen darf ich nicht länger, jedenfalls noch nicht. Dein Gemüt wird dies verkraften, dessen bin ich sicher! Nun höre, was ich zu sagen habe. Dies ist meine Geschichte!
Was wäre wohl die geeigneteste Tat, um die Standhaftigkeit des inneren Richters herauszufordern, fragte ich mich. Nun, lange musste ich nicht überlegen. Ich wusste, was zu tun war. Hatte ich es nicht schon immer gewusst? Wenn eines gegen die Ordnung, gegen die Gesellschaft verstößt, dann ist es Mord! Als abscheulich empfunden von all den Scheinheiligen und doch ist es etwas urmenschliches. Ich nahm mir vor, nicht länger zu verbergen, wer wir in Wahrheit sind. Ich verstand mich selber als Kämpfer für die Freiheit des Menschen. Der zivilisierte Mensch hat vergessen, was es heißt, Mensch zu sein. Die Zivilisation hat ihn abgestumpft, regelrecht einer Gehirnwäsche unterzogen. Um meine Andersartigkeit zu demonstrieren, entschied ich mich, die Tat durchzuführen. Nichts konnte mich mehr aufhalten. Mein Entschluss stand fest!
Was ist die beste Art ein Leben zu beenden, fragte ich mich. Nun, lange musste ich nicht überlegen. Ich wusste, was zu tun war. Hatte ich es nicht schon immer gewusst? Das Opfer darf nicht damit rechnen, muss überrascht werden. Am besten war der Mörder ein nahestehender Mensch. Mord alleine reicht nicht. Der Mensch muss unverhofft und mit aller Gewalt aus dem Leben gerissen werden. Und es musste ohne Waffen geschehen. Waffen sind primitiv, ehrenlos. Es geht einfach zu schnell, dabei muss der Prozess des Mordens vollständig genossen, die Überlegenkeit bis zuletzt ausgekostet werden. Waffen sind ehrenlos, merk dir das, verehrter Leser, solltest du in die gleiche Situation geraten wie ich, wenn du für etwas kämpfst und keine andere Möglichkeit hast, als zu morden! Nicht um des Opfer, sondern um des Täters willen, denn dieser ist es, der seine Ehre bewahren muss! Nur so wird der innere Richter herausgefordert!
Nun, wie bereits angedeutet, traf alles auf eine bestimmte Person zu. Ich hatte mein Opfer bereits ausgewählt, noch bevor es mich als potentiellen Täter überhaupt ausmachen konnte, so glaubte ich jedenfalls. Es war mein Vater, musste mein Vater sein. Nicht etwa, weil ich ihn hasste. Das zwar auch, doch in erster Linie, weil es so vorherbestimmt war. Der alte Mann war krank, wofür sollte er also noch leben? Seine einzige Funktion war, seinem Sohn die Erfüllung seines Schicksals zu ermöglichen. Nur dafür war der Kranke so lange am Leben geblieben. Also, sprach ich, so soll es geschehen!
An jenem verhängnisvollen Abend sollte es geschehen. Ich spürte es! Wie immer brachte ich dem alten Mann das Essen ans Bett. Müde und schwach war er. Alleine aufstehen, konnte er nicht mehr. Seine Haut war grau und faltig, die blassen Augen eingefallen. Ich setzte mich an die Bettkante und beobachtete die armselige Gestalt beim Essen mit wachsamen Augen. Als mein Vater geendigt hatte, nahm ich das Tablett mit dem leeren Teller in Empfang und stellte es auf die Kommode neben dem Bett. Der Alte sah mich und ich ihn an.
"Du bist so gut zu deinem Vater", sprach er mit zittriger Stimme. Noch bin ich das, dachte ich. Wie konnte der Kranke immer noch denken, dass ich ihn freiwillig pflegte? Mein Handeln war nicht auf die Güte meines Herzens zurückzuführen, sondern einzig und allein auf den inneren Richter, der mich wahrlich dazu zwang. Doch damit sollte es jetzt ein Ende haben, verehrter Leser, denn ich wollte mir nicht länger Vorschriften machen lassen, von niemandem, nie mehr! Auch wenn alles Sein sinnlos ist, so wollte ich doch zumindest frei sein. Einfach um selber über mein Schicksal bestimmen zu können. Nach einer längeren Pause sagte ich schließlich: "Du siehst müde aus, alter Mann."
Der Kranke versuchte ein Lächeln aufzusetzen, was ihm jedoch nicht gelang.
"Ich werde bald sterben, mein Sohn."
"Hast du keine Angst vor dem Tod, alter Mann?"
Der Alte blickte wieder zu mir hoch. Tatsächlich hatte ich diese Frage nicht aus gespieltem, sondern aus wahrhaftigem Interesse gestellt. Der Alte stammelte vor sich hin. Das Sprechen viel ihm sichtlich schwer und dennoch verstand ich jedes seiner Worte.
"Nein. Ich bin jederzeit bereit zu sterben. Sollte dies mein letzter Tag sein, so soll es geschehen! Ich bereue nichts, habe mein Leben frei und meinen Vorstellungen entsprechend gelebt. Nicht immer ist mir alles gelungen und dennoch konnte ich viele meiner Träume verwirklichen. Ich kann mir nichts vorwerfen, da ich aus meinen Möglichkeiten und Anlagen stets das Beste gemacht habe. Ich habe mein Talent nicht verschwendet und mein Potential voll ausgeschöpft. Ich bin mit mir selbst im Reinen, habe inneren Frieden gefunden und ein sehr glückliches Leben geführt. Wenn die Zeit kommt, so werde ich diese Welt glücklich und zufrieden verlassen. Ich bin frei!"
Es dauerte eine Ewigkeit bis mein Vater diese Worte ausgesprochen hatte, doch gebannt hörte ich ihm bis zuletzt zu. Er war ein sehr erfolgreicher Dichter und Philosoph, doch diese Zeit war vorüber. Nur noch ein Schatten seiner selbst war er. Und dennoch fühlte er sich frei, obwohl er doch an gewisse äußere Faktoren wie seine schwere Krankheit gebunden war. Ich begriff nicht! Wie konnte er trotz dessen noch glücklich sein? Während ein solch gesunder, attraktiver junger Mann wie dein getreuer Erzähler so unglücklich war? Es musste am inneren Richter liegen. Ja, dies war ganz sicher der einzige Grund für meine Unzufriedenheit! Und ich wusste, was ich dagegen tun konnte. Schon bald würde ich frei und glücklich sein und somit der allgemeinen Sinnlosigkeit des Daseins trotzen.
"Wenn das so ist, werde ich den Tod herbeiführen, alter Mann", antwortete ich endlich.
"Nur zu, mein Junge. Ich wusste schon immer, dass du es eines Tages tun würdest."
Das überraschte mich. Ich würde also überrascht, ich der Täter und nicht er, das Opfer obwohl es eigentlich so hätte sein müssen. Er hatte also doch schon mit allem gerechnet.
"Sage mir, woher du das wusstest, und dann werde ich deinem elenden Leben ein Ende bereiten, alter Mann!"
"Auch wenn ich mir nie etwas anmerken ließ, sah ich jeden Tag diesen Durst in deinen Augen. Diese unstillbare Gier! Deine hasserfüllten, unglücklichen Augen haben dich verraten. Die Zeit ist gekommen, mein Sohn. Erfülle deine Bestimmung!"
"Der Sohn muss den Vater töten. Um der Freiheit willen!"
Die Zeit des alten Mannes war abgelaufen, so wie die Zeit eines jeden von uns irgendwann abgelaufen ist. Der Tod nahte, das Ende. Und je länger ich in dieses kranke Gesicht blickte, desto größer wurde der Hass auf meinen Vater. Ich beneidete ihn dafür, dass er Freiheit und inneren Frieden im Gegensatz zu mir schon erlangt hatte. Meine eigene Sehnsucht nach eben jener Freiheit stieg mit jeder Sekunde an.
"Du wirst für einen guten Zweck sterben. Dir nehme ich das Leben, um es mir selber einzuhauchen. Ich muss dich deiner Freiheit berauben, um meine eigene zu erlangen. Leb wohl, alter Mann", sagte ich, als ich meinem Vater das Kissen unter dem Kopf wegzog und sein Kopf hart auf der Bettkante aufschlug. Er wehrte sich nicht und starrte mich nur an. Seine wässrigen Augen waren ganz ruhig, so ruhig wie das Meer an einem schönen Sommertag. Tatsächlich keine Anzeichen von Angst, Reue oder Fassungslosigkeit. Dieser innere Friede, den mein Vater ausstrahlte und mir fehlte, machte mich wütend. Ich begann innerlich zu brodeln. Meine wilden Augen blickten in seine ruhigen und die Wut übermannte mich endgültig.
"Versuch es nur", waren des alten Mannes letzten Worte, bevor ich das Kissen mit aller Gewalt gegen sein Gesicht presste. Nur seine Augen ließ ich unbedeckt, denn ich wollte sehen, wie die Ruhe der Verzweiflung und Panik wich. Ich wollte sehen wie das Licht in seinen Augen für immer erlischt. Doch nichts dergleichen geschah. Ich drückte dem Kranken langsam aber sicher mit dem Kissen die Luft ab und dennoch sahen seine Augen mich nach wie vor seelenruhig an. Es regte sich nichts. Unheimlich war das, verehrter Leser, sehr unheimlich. Im Angesicht des Todes, seinem Peiniger gegenüberstehend, leistete der alte Mann nicht den Geringsten Widerstand. Er bemühte sich gar nicht, mich von meinem teuflischen und unmoralischen Vorhaben abzubringen. Er wusste, dass er nichts ändern konnte und ließ es daher einfach geschehen. Statt den Tod zu fürchten, begrüßte er ihn.
Ich musste meine Niederlage eingestehen. Der alte Mann würde die Welt im Einklang mit sich und überhaupt allem verlassen und daran konnte ich bedauerlicherweise nichts ändern. Mein Vorhaben, ihn wahrlich aus dem Leben zu reißen und mit Bedauern sterben zu lassen, damit er so viel wie möglich leidet, war gescheitert. Also setzte ich zum erlösenden Todesstoß an. Ich stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht auf das Kissen und mein Vater bekam endgültig keine Luft mehr. In dieser Position verharrte ich einige Sekunden und mein Vater schloss die Augen. Somit konnte ich nicht einmal sehen, wie sein Blick starr und leer wurde. Auch das war mir nicht vergönnt, was wurde ich nur gedemütigt!
Glücklicherweise aber schwieg der innere Richter und das war schließlich die Hauptsache. Wenigstens gegen ihn hatte ich gesiegt, wenn ich es schon gegen meinen Vater nicht geschafft hatte. Nun war es vollbracht. Ich löste den Druck und warf das Kissen beiseite. Der alte Mann war tot. Umgekommen durch meine Hand (ganz ohne Waffen, denn Waffen sind ehrenlos, merke dir das verehrter Leser). Ich war endlich frei!
Müde aber erleichtert nahm ich auf dem Stuhl Platz, der neben dem Bett stand. Dabei stieß ich in meinem Rausch versehentlich das Tablett um, welches ich zuvor auf der Kommode abgestellt hatte. Scheppernd fiel es zu Boden und ich stolperte beinahe darüber, aber nur beinahe. Ich lehnte mich schwer atmend gegen die Rückenlehne des Stuhles. Einen Mord zu begehen ist wirklich anstrengend, harte Arbeit. Mit ruhigen Augen betrachtete ich die Leiche meines Vaters, die da lag auf dem Bett vor mir. Jetzt war ich doch froh, dass er kurz vor seinem Ableben doch noch die Augen geschlossen hatte, denn glücklicherweise musste ich sie nicht mehr sehen. Ich bezweifelte, ob ich den Anblick ertragen hätte.
Mein Kopf war leer, ich wusste nicht, was ich als nächstes hätte tun können. Ich musste mich nur erholen, das war alles! Bald würde ich auch wieder klar denken können. Doch ein noch unerfahrener Mörder, wie es dein getreuer Erzähler war, musste das alles zunächst verarbeiten. Das ist schließlich normal nach so einer Anstrengung, dachte ich. Schließlich brachte man ja nicht jeden Tag seinen Vater um. Ich war mir auch nicht sicher, ob es überhaupt genug Väter geben könnte, um meinen Durst zu stillen. Also beschloss ich zu warten. Nichts als warten würde mir helfen.
Doch, worauf wartete ich eigentlich? Warum tat ich dies alles? Da fiel es mir wieder ein! Ich wartete auf die Erlösung, auf den inneren Frieden, darauf, dass ich endlich glücklich wurde. Ich hatte beseitigt, was meinem Glück im Wege stand, ich hatte den inneren Richter besiegt. Folglich mussten sich meine Fesseln bald lösen, jeden Augenblick musste es soweit sein. Dann wäre ich frei. Alles, was ich jemals sein wollte. Frei, einfach nur frei.
Also saß ich in dem Stuhl und wartete. Die Freiheit würde sich zu erkennen geben, ganz von alleine, dessen war ich sicher. Ich würde spüren, wenn es soweit war, ganz sicher.
Die Zeit verging und es tat sich nichts. Die Uhr im Zimmer tickte unaufhörlich. Ich warf einen nervösen Blick auf das Ziffernblatt und stellte erstaunt fest, dass ich bereits sechs Stunden einfach nur still dasaß, ins Nichts schaute, über eine Leiche wachte und die Freiheit immer noch nicht eingetroffen war.
Es war Mitternacht! Die Uhr schlug zwölf. Draußen hörte ich das Läuten der Glocken des Kirchturms. Und ich saß alleine in der dunklen Kammer, zusammen mit einer Leiche. Auf einmal wurde mir elend zumute. Mein Herz schlug schneller, ich schwitzte, der Blutdruck stieg. Merkwürdig, dachte ich, so hatte ich doch zuvor die ganze Zeit über nichts dergleichen gespürt. Vielleicht war es auch ein gutes Zeichen. Vielleicht kam in diesem Augenblick die Freiheit über mich. Sie schlug sich in körperlichen Symptomen nieder. Gleich würde es mir dafür richtig gut gehen. Gleich würde ich wissen, was es heißt, glücklich und frei zu sein. Doch anstatt abzufallen, stieg die Anspannung immer weiter. Was war nur mit mir los?
Unruhig wippte ich auf meinem Stuhl hin und her. Vorsichtig warf ich der Leiche des alten Mannes einen Blick zu, nur um sicherzustellen, dass sie noch da war. Man konnte ja nie wissen. Und sie war noch da, doch etwas war anders. Sehr anders sogar.
Ich erschrak heftig, denn ob du es mir glaubst oder nicht, verehrter Leser, die Augen des Toten waren plötzlich weit geöffnet. Die gleiche Ruhe lag in seinen blassen Augen, wie zu dem Zeitpunkt seines Todes. Doch war ich mir nicht sicher, dass die Augen zuvor geschlossen waren? Hatte ich das nicht gesagt? Jetzt wusste ich nur noch eines, die Augen waren in diesem Moment definitiv geöffnet.
Vor Schreck fiel ich beinahe vom Stuhl, konnte mich aber noch rechtzeitig festhalten. Die Glocken in der Kirche läuteten immer noch. 10, 11, 12. Es war vorbei! Mitternacht, ich war alleine mit einer Leiche, deren Augen geöffnet waren. Doch es kam tatsächlich noch schlimmer!
Es geschah etwas, das ich niemals für möglich gehalten hätte, nicht in meinen schlimmsten Albträumen. Die Augen waren wahrscheinlich die ganze Zeit geöffnet. Ich hatte mir vermutlich nur eingebildet, der alte Mann hätte sie geschlossen. Doch der Tote drehte plözlich den Kopf in meine Richtung und das war keine Einbildung, glaube mir verehrter Leser! Die Leiche starrte mich mit ruhigen Augen an. Die Augen traten aus ihren Höhlen hervor, der Mund verzerrte sich zu einer fürchterlichen unbeschreiblichen Grimasse. Da fehlten gar mir die Worte. Die ohnehin schon verschrumpelte Haut nahm unmenschliche Falten an. Ich regte mich nicht, konnte mich nicht regen. Meine Kinnlade klappte herunter, in meinen Augen lag blankes Entsetzen und unvorstellbare Angst. Das Herz in meiner Brust raste so sehr, dass es wahrlich zu bersten drohte.
"Was ist das für ein Spiel", schrie ich verzweifelt auf, als ich endlich in der Lage war. einen Ton hervorzubringen. Auf dem Stuhl hielt mich nichts mehr. Sobald ich fähig war mich zu rühren, sprang ich auf und wich einige Meter zurück. Ich presste mich mit dem Rücken gegen die kalte Wand, den Toten nicht aus dem Blick lassend.
"Ich komme wieder, dich zu richten, mein Sohn", sprach der Tote. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, doch ich versichere dir verehrter Leser bei allem was mir heilig ist, es ist wahr! Der Tote erhob sich aufreizend langsam und kam auf mich zu. Erst jetzt fiel mir auf, dass er eine Perücke auf dem Kopf trug. War sie etwa die ganze Zeit da, ich konnte mich beim besten Willen nicht entsinnen. Ich war einfach nicht mehr zurechnungsfähig.
Mein Vater streckte seine verfaulte und verblichene Hand nach mir aus. Die Fingernägel waren abgefallen, die Haut hatte eine nicht definierbare unfassbar ekelhafte Farbe angenommen und doch sah ich, wie die violett angelaufenen Adern zu pulsieren begannen. Der Tote lebte! Es war alles real!
Aus meinem Gesicht wich jegliche Farbe. Die Beine wurden so weich, dass sie die Last meines Körpers nicht mehr trugen und ich an der Wand zusammensackte. Verzweifelt wie ich war stammelte ich: "Aber, du, du bist tot. Ich habe den alten Mann umgebracht. Wie? Wie nur ist dies möglich?"
Der Tote entgegnete mit seiner krächzenden, nicht mehr menschlichen Stimme: "Ich lebe in dir weiter, mein Sohn. Ich werde immer in dir weiterleben, dich heimsuchen und schänden! Du kannst dich mir nicht widersetzen! Ich bin jetzt ein Teil von dir, versteckt in deinem Unterbewusstsein und ich werde dich niemals in Ruhe lassen, niemals! Nie mehr wirst du Frieden finden, mein Sohn! Ich folge dir auf Schritt und Tritt. Du bist nicht alleine!"
Das hat mir endgültig den Rest gegeben. Da ich den Anblick meines Vaters, besonders seiner ruhigen Augen nicht länger ertragen konnte, schloss ich die meinen und kniff sie fest zusammen, sodass sie auch bloß geschlossen blieben. Ich spürte, wie die kalte Hand meinen Hals umklammerte, nahm den verfaulten übel riechenden Atem des Toten wahr, dessen Gesicht sich direkt vor meinem befinden musste. Das Verlangen, die Augen zu öffen, war groß, doch ich blieb standhaft. Mein Vater vergönnte es mir nicht zu sehen, wie das Licht des Lebens aus seinen Augen wich, als ich ihn ermordete, also wollte ich ihm diesen Triumph auch nicht gönnen. Sein Griff wurde fester und mir blieb die Luft weg. Ich wurde ohnmächtig.
An dieser Stelle sollte meine Geschichte enden, könnte man meinen, doch dem ist nicht so. Schließlich bin ich doch noch hier, um diese Geschichte zu erzählen.
Tatsächlich wachte ich einige Stunden später wieder auf. Es war nach wie vor mitten in der Nacht. Zunächst wusste ich nicht, wo ich war, doch dann fiel es mir wieder ein und ich erschauderte. Ich lag auf dem Boden, vor mir der umgekippte Stuhl und das Tablett, das auf den Boden gefallen war. Als ich wieder zu mir kam sprang ich wie von der Tarantel gestochen auf. Wo war er? Befand er sich noch in diesem Raum? Ich erblickte ihn nirgends, was mich nur noch mehr ängstigte. Irgendwo, so war ich mir sicher, lauerte er und wartete nur darauf, dass er meinem Leben endlich ein Ende bereiten konnte. Freiheit würde ich niemals finden. Das hatte ich jetzt aufgegeben. Es war mir einfach nicht vergönnt. Der innere Richter hatte doch gesiegt. Dann sah ich die Leiche meines Vaters. Sie lag auf dem Bett. Die Augen waren geschlossen. Und da begriff ich endlich! Alles was ich wollte, war Ruhe. Ewige Ruhe. Nie mehr konnte ich jetzt inneren Frieden und Glück finden. Nie mehr!
Ich wollte nicht länger mit meiner Schuld leben, denn so lange ich am Leben war, würde mein Vater mich heimsuchen, genauso wie er es angekündigt hatte. Es zerfraß und zerriss mich innerlich und aus all dem Unheil gab es kein Entrinnen. Es war vorbei! Mir wurde in diesem Augenblick mehr als je zuvor die Sinnlosigkeit allen Seins bewusst. Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass Hass und Zerstörung dem Leben einen Sinn gibt? Nichts macht Sinn, einfach nichts! Letztendlich ist auch das, genau wie alles andere, eine Lüge! Und zu sprechen über meine Schuld änderte nichts, also musste ich über das Unaussprechliche schweigen.
Ich wusste was zu tun war, hatte ich es nicht tief in meinem inneren immer gewusst? Wie konnte man der Sinnlosigkeit entrinnen? Ganz einfach, indem man das irdische Leben hinter sich lässt. Was tat ich also, verehrter Leser? Ich begab mich zum Fenster, öffnete es. Nicht länger konnte ich mit meiner Reue leben, also schrie ich so laut ich konnte in die finsterste Nacht: "Ich war es! Ich habe ihn getötet! So verzeihet mir doch, so verzeihet mir doch! Ich wusste nicht, was ich tat! Ich bin schuldig! Der innere Richter hat gewonnen! Ich habe meinen Vater getötet! Doch ich wurde gezwungen, gezwungen von der inneren Motivation etwas zu finden, was es gar nicht gibt! Freiheit ist eine Lüge! So verzeihet mir doch!"
Mit diesen Worten sprang ich voller Überzeugung mit dem Kopf voran in die Dunkelheit. Am Ende sah ich Licht. Alles wurde hell!
An dieser Stelle fragst du dich verehrter Leser bestimmt, wie ich trotzdem diese Geschichte erzählen kann. Nun, ich sitze hier, in einem Gerichtssaal und werde gerade just in diesem Augenblick zur Rechenschaft gezogen. Hier tragen alle Perücken. Mein Vater ist übrigens auch hier. Und warum erzähle ich ausgerechnet dir meine Geschichte? Weil du der Richter bist, der das Urteil fällen muss und über mich zu richten hat. Das ist deine Aufgabe. Alles was mir bleibt ist Schweigen. Ich habe nichts mehr zu sagen!