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geschrieben von Retep.
Veröffentlicht: 14.02.2022. Rubrik: Unsortiert


Ist das gerecht!?

Mit zittrigen Fingern wischte sich Kommissar Werner Schuhmann durch sein Gesicht, dann blickte er auf seine Armbanduhr, 22:22 Uhr.
„Eine Schnapszahl, wenn das kein Zeichen ist“, grummelte Werner. Er öffnete die Tür zu seiner Stammkneipe und atmete tief ein. Der Geruch von schalem Bier, kaltem Zigarettenrauch und Schweiß legte sich auf seine Lungen … und er genoss es.
„Moin Werner“, grüßte der Wirt, als er Werner Schuhmann im Türrahmen stehen sah. „Wie immer, n Bier un n Korn?“
Werner nickte und schlurfte zum Tresen. Olaf, der Wirt, stellte ihm die Getränke vor.
„Siehst scheiße aus Werner, arbeitst zu viel. Deine jungen Kollegen machn pünktlich Schluss un du schiebst Überstunden, is net gerecht.“ Werner hob das Bierglas und betrachte den darin perlenden Schaum.
„Ist nicht gerecht“, wiederholte er wie in Trance Olafs letzten Worte. „Ist nicht gerecht? Was ist schon gerecht?“ Werner stellte das Glas zurück auf den Tresen und sah Olaf an. Völlig emotionslos begann Werner zu reden:
„Es sind nicht die Überstunden, die uns zu schaffen machen. Viel schlimmer sind die Fälle, die einem nicht loslassen.“ Werner umschloss das Schnapsglas mit seiner Hand.
„Heute, auf den Tag genau vor einem Jahr wurden zwei Streifenpolizisten auf eine Gruppe von sechs Jugendliche aufmerksam. Sie saßen auf dem Marktplatz, tranken Alkohol, konsumierten Drogen und pöbelten Passanten an. Die Kollegen nahmen die Personalien auf und erteilten ein Platzverbot. So wie jedes Mal, wenn diese Gruppe irgendwo in der Stadt auffällig wird. Mehr gibt das Gesetz in unserem Rechtsstaat nicht her, aber ist das gerecht?“ Verdutzt hob Olaf die Schulter und schüttelte stumm den Kopf. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte, respektive worauf Werner hinaus wollte. Werner öffnete seine Hand und schob das Glas einige Zentimeter über den Tresen. Anschließend sprach er weiter.
„Grölend und die Beamten nicht für voll nehmen, zog die Horde von dannen, um an einem anderen Ort in unserer Stadt weiter zu Pöbeln. Jeder Polizist weiß das, kann es aber nicht ändern, aber ist das gerecht?“
„Nein, nein, natürlich nicht“, stammelte Olaf und wischte verlegen mit einem Lappen über den feuchten Tresen. Werner nahm erneut das Schnapsglas in die Hand und schüttete den Inhalt in sein Bierglas. Einige Sekunden beobachte er schweigend, wie sich die Getränke vermischten. Dann schob er das leere Schnapsglas von der linke in die rechte Hand und sprach weiter.
„Eine Stunde später, wurden wir zu einem Tatort gerufen. Ein junges Mädchen war im Bahnhof auf die Schienen gestürzt und wurde von einem einfahrenden Zug überrollt. Dank der Zeugenaussagen und der Überwachungskameras bekamen wir schnell sechs stadtbekannte Jugendliche im Visier. Sie hatten das Mädchen umringt, aber keiner hatte sie gestoßen, das war deutlich auf der Kamera zu erkennen. Was wir nicht ermitteln konnten, war, ob sie das Mädchen bedroht haben. Nichtsdestotrotz, das Mädchen war tot und die Jugendlichen erhielten Bewährungsstrafen … aber ist das gerecht?“
Olaf öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Werner winkte ab und unterbrach in.
„Es geht noch weiter“, sagte er. „Keine zwei Wochen später starb Zudie Mutter des Mädchens vor Kummer. Sie hatte sich nach der Beerdigung, das habe ich nachträglich erfahren, in das Bett ihrer Tochter gelegt, stundenlang geweint und starb an gebrochenen Herzen, … aber ist das gerecht?“ Werner hob das Bierglas und betrachtete den immer weniger werdenden Schaum. Olaf schüttelte den Kopf und öffnete erneut den Mund.
„Moment“, stoppte ihn Werner und stellte das Glas auf den Tresen, „es geht noch weiter. Vor sechs Monaten nahm sich der, am Tod des Mädchens unschuldige, Lokomotivführer das Leben. Er kam mit dem Unglück nicht klar und hinterlässt eine Frau und drei schulpflichtige Kinder … aber ist das gerecht?“
Schockiert wischte Olaf sich den Schweiß von der Stirn. Drei – viermal startete er den Versuch etwas zu erwidern, aber es gelang ihm nicht.
„Tja“, gedankenverloren drehte Werner das Bierglas auf dem Tresen, „und dann die Straftat heute Morgen. Wir erhielten einen Anruf auf der Wache. Darin wurde uns mitgeteilt, dass auf einer stillgelegten Straße Personen überfahren wurden. Wir fanden sechs Jugendlichen. Sie lagen gefesselt auf der Straße und wurden, mit einem noch vor Ort stehenden Kleintransporter, überfahren.“ Werner kreiste mit seinem Zeigefinger über den Rand des Bierglases.
„Habt ihr schon einen Verdacht?“, fragte Olaf, obwohl er schon eine Ahnung hatte. Werner nickte.
„Natürlich, es war der Vater des toten Mädchens. Er erwartete uns vor Ort. Hm, und jetzt haben wir acht geständige Tatverdächtige.“ Erstaunt sah der Wirt Werner in die Augen.
„Acht?“, fragte Olaf erstaunt.
„Acht“, wiederholte Werner. „Der Vater und die beiden volljährigen Brüder des Mädchens. Die vier Großeltern des Mädchens … und die Frau des Lokomotivführers! Alle waren vor Ort und ich bin mir sicher, dass wir von allen Personen DNA im Transporter finden. Aber wer ist gefahren?“
Olaf griff sich mit beiden Händen in die Haare.
„Irgendwie … irgendwie kann ich es verstehen“, stotterte er.
„Aber ist es gerecht?“, fragte Werner. Er hob das Bierglas und leerte es in einem Zug. Das Bier war warm und schmeckte abgestanden.

„Werner.“ Erschrocken zuckte Werner Schuhmann zusammen. Irritiert sah er sich um und blickte seinem Kollegen in die Augen. Tatsächlich, er war in seinem Stuhl an seinem Schreibtisch auf seiner Dienststelle eingeschlafen.
„Werner, wir müssen los. Im Bahnhof ist eine Person auf die Schienen gestürzt und wurde vom Zug überrollt.“

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