Kurzgeschichten-Stories
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geschrieben von Chris1980.
Veröffentlicht: 24.12.2021. Rubrik: Menschliches


Weihnachten mit Mo

Es war Mitte Dezember und es hatte gerade zu schneien begonnen, als Leonhard Wagner das Bürogebäude verließ, in dem er arbeitete. Doch heute machte er sich nicht wie üblich auf den Weg zum Hauptbahnhof, sondern ging in Richtung Innenstadt.
Während er gemeinsam mit unzähligen weiteren Passanten an der Fußgängerampel einer stark befahrenen Hauptverkehrsstraße stand und auf grün wartete, ging er noch einmal die Nachricht durch, die ihm passend zum Feierabend seine Freundin aufs Smartphone geschickt hatte.
Eigentlich hatte er sich auf einen ruhigen gemütlichen Fernsehabend gefreut, vielleicht hätte er sich aber auch mal wieder spontan im Fitness-Studio blicken lassen, doch stattdessen durfte er sich ins vorweihnachtliche Getümmel stürzen und eine Liste mit Weihnachtseinkäufen abarbeiten. Seine Eltern, seine Schwester, sein Neffe, seine Nichte, seine Schwiegereltern in spe und last but not least seine Freundin – sie alle wollten beschenkt werden und als ob das nicht schon genug wäre, bekam er noch obendrein den ein oder anderen Spezialauftrag, ein Geschenk für Dritte zu besorgen.
Endlich sprang die Ampel auf grün um und die Menschenmenge setzte sich in Bewegung. Leonhard beschloss, zunächst sein Glück bei Galeria Kaufhof zu versuchen. Seine Freundin wünschte sich eine neue Handtasche, aber nicht etwa irgendeine, sondern sie musste ausgerechnet von ihrem Lieblingsdesigner sein.
Er wollte gerade die Einkaufsstraße verlassen und in den Eingangsbereich des Kaufhauses einbiegen, als er eine Stimme vernahm: „Entschuldigen Sie, der Herr. Hätten Sie eventuell eine kleine Spende für mich?“ Diesen Satz hatte er schon an die hundert Mal gehört und meistens immer im unpassendsten Moment – entweder früh morgens auf dem Bahnsteig, noch ehe er seinen ersten Kaffee zu sich genommen hatte, oder abends, wenn er nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag nur noch rasch seine Erledigungen hinter sich bringen und sich auf den Heimweg machen wollte. Leonhard ließ seinen Blick zum Boden schweifen. Dort saß ein junger Mann mit zerzausten Haaren und Klamotten, die mal wieder eine ordentliche Wäsche nötig gehabt hätten. Um sich ein wenig vor der Kälte zu schützen, war er in eine Decke gewickelt. Auf seinem Schoß hatte er eine Ukulele, die ebenso wie ihr Besitzer vermutlich schon bessere Tage erlebt hatte. Vor sich hatte er einen Hut platziert, in dem bereits ein paar klägliche Cents gelandet waren.
„Tut mir leid“, entgegnete Leonhard, „Ich habe es eilig. Und im Übrigen, wie wäre es mal mit einer richtigen Arbeit? Dann müsstest du auch nicht hier auf der Straße herumlungern und Passanten anschnorren.“ Dann ging Leonhard weiter und verschwand im Kaufhaus.
Richtige Arbeit, dachte sich der Straßenmusiker, was ist schon richtige Arbeit? Die meisten Leute sahen in ihm nur den Taugenichts, der den ganzen Tag über faulenzte. Kaum jemand machte sich darüber Gedanken, weshalb er auf der Straße lebte und wie es dazu gekommen war. Ihn verletzte es, wenn Menschen ihm gegenüber abweisend und beleidigend reagierten, versuchte er doch nur, durch seine Musik die Welt ein wenig besser zu machen. Er entschied sich, sich ein warmes Plätzchen für die Nacht zu suchen. Erst vergangene Woche hatte er einen halb erfrorenen Obdachlosen in einem Hauseingang gefunden, doch als der Notarzt endlich zur Stelle war, war es bereits zu spät. Er wollte nicht, dass ihm das gleiche Schicksal widerfuhr. Also packte er seine Sachen zusammen, schüttete das Kleingeld in seine Hosentasche, setzte sich seinen Hut auf und marschierte mit seiner Ukulele auf dem Rücken los.
Währenddessen kämpfte sich Leonhard durch die Lederwarenabteilung des Kaufhauses.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ fragte die zuständige Verkäuferin, da sie offensichtlich seine Überforderung bei all den Taschen, Portemonnaies und was es sonst noch so gab bemerkt hatte.
„Ähm...ja...also ich suche eine Handtasche von Pablo Ro...Ro...“, stammelte er.
„Ah, Sie meinen bestimmt Pablo Rodriguez. Da haben Sie aber Glück. Soeben ist die neueste Kollektion erschienen. Et voilà, hier haben wir sie.“ Die Verkäuferin drehte sich mit einer ausschweifenden Handbewegung um und zeigte auf das Regal hinter ihm.
Doch als Leonhard die Preise sah, entglitten ihm die Gesichtszüge. Ab 450,00 € war er dabei. Plötzlich machte sich sein Smartphone bemerkbar. „Entschuldigen Sie bitte“, vertröstete er die Verkäuferin, dann griff er in seine Jackentasche und holte das Mobiltelefon hervor. „Hallo Schatz, ich...nein, ich habe nicht vergessen, dass du dich heute Abend mit deinen Freundinnen triffst.“ Leonhard holte tief Luft. „Wie wäre es, wenn du einfach selbst etwas für euren Mädelsabend besorgst. Ich bin noch in der City und weiß noch nicht genau, wann ich zuhause bin.“ So sehr er seine Freundin auch liebte, manchmal konnte sie ihn in den Wahnsinn treiben. Im Moment hatte er das Gefühl, es niemandem Recht machen zu können. Im Job wollte jeder etwas von ihm und am besten direkt bis gestern, seine Freundin kommandierte ihn herum, wo es nur ging, und er selbst blieb dabei völlig auf der Strecke. Was war doch das Single-Leben schön, als er niemandem Rechenschaft ablegen musste und er tun und lassen konnte, was er wollte, ohne dass man ihm ein schlechtes Gewissen einredete. Das Freizeichen in der Leitung signalisierte ihm, dass seine Freundin vermutlich not amused war, dass er ihren Wunsch nicht erfüllen konnte. Aber schließlich konnte er nicht an jedem Ort gleichzeitig sein.
„Ich glaube, es hat sich erledigt“, meinte er schließlich zu der Verkäuferin, die gerade so tat, als würde sie ein wenig Ordnung in die Regale bringen, nur um bloß nicht den Anschein zu erwecken, sie würde das Telefonat zwischen Leonhard und seiner Freundin belauschen.
„Das ist aber schade. Sie haben ja noch ein paar Tage Zeit bis zum Fest der Liebe und können es sich ja noch einmal in Ruhe überlegen.“ Dann widmete sich die Verkäuferin wieder ihren Regalen.
Für heute reichte es ihm und er verließ das Geschäft, um sich auf den Weg zum Hauptbahnhof zu machen. Eigentlich verspürte er nicht die geringste Lust, nach Hause zu fahren und sich den endlosen Diskussionen auszusetzen.
Er kam vorbei an festlich geschmückten Geschäften, an Menschen, die nach Feierabend noch bei einem Glühwein zusammenstanden, an unzähligen Autos, die beinahe fluchtartig die Stadt zu verlassen schienen. Schließlich musste er eine Brücke überqueren, von hier aus waren es nur noch wenige hundert Meter bis zu seinem Ziel. Doch als er auf der Mitte der Brücke angelangt war, hinderte ihn eine unsichtbare Macht weiterzugehen. Ihm wurde schwindelig und er hielt sich krampfhaft am Geländer fest. Er blickte in die Tiefe. Das Wasser des Flusses wirkte beinahe schwarz. Was war bloß los mit ihm? Ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Oder doch nur eine Panikattacke, die die Konsequenz aus dem ganzen Stress war, dem er Tagein, Tagaus ausgesetzt war. Er hatte immer alles unter Kontrolle. Und plötzlich war er außerstande, ein Bein vor das andere zu setzen.
„Egal was du vorhast, tu es nicht!“ Er wandte sich um und neben ihm stand der Straßenmusiker von vorhin. „Wenn du springst, müsste ich hinterher springen. Und ich bin nicht wirklich ein Meisterschwimmer. Außerdem ist das Wasser vermutlich arschkalt.“
„Aber ich hatte gar nicht vor zu springen“, rechtfertigte sich Leonhard. „Mir war nur mit einem Mal so komisch.“
„Puh“, atmete der Straßenmusiker erleichtert aus, „Für einen Moment dachte ich tatsächlich, ich würde heute noch ein unfreiwilliges Bad nehmen. Geht's denn wieder?“
Leonhard nickte. „Ich glaube schon.“
„Aber irgendwas scheint dich zu bedrücken“, hakte der Fremde nach, „Das spüre ich doch.“
„Ich will dich wirklich nicht mit meinen Problemen belasten. Du hast doch bestimmt genug eigene.“ Leonhard fiel es schwer, sich anderen zu offenbaren, vor allem gegenüber Menschen, die er nur flüchtig kannte. Er war es gewohnt, mit den Dingen, die ihn belasteten, alleine zurecht zu kommen.
Doch da hatte er die Rechnung ohne den Straßenmusiker gemacht. „Ich bin ein guter Zuhörer.“
„Kennst du das Gefühl, dass du tust und tust und es doch keinem recht machen kannst.?“ wollte Leonhard wissen.
„Nur zu genüge. Ich war damals neun Jahre alt, als meine Mutter bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Meinen leiblichen Vater habe ich nie richtig kennen gelernt, da er sich kurz nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht hat. Angeblich soll er sich ins Ausland abgesetzt haben, da man nach ihm gefahndet hat. Die erste Zeit hat mein Stiefvater versucht, sich um mich zu kümmern. Aber irgendwann waren ihm der Alkohol und seine Frauengeschichten wichtiger als ich.“ Der Straßenmusiker machte eine kurze Pause. Dann erzählte er weiter. „Als er eines Abends total besoffen nach Hause kam, haben wir uns heftigst gestritten und schlussendlich hat er auf mich eingeschlagen. Und so bin ich einfach von zu Hause abgehauen. Leider Gottes hat mich das Jugendamt bald aufgegriffen und ich bin zunächst in eine Pflegefamilie gekommen. Doch dort fühlte ich mich alles andere als verstanden, so dass man sich entschied, dass das Heim doch die bessere Alternative für mich sei. Kurz vor meinem 18. Geburtstag bin ich dann auch von dort abgehauen. Die starren Regeln waren einfach nichts für mich. Und seitdem schlage ich mich so durch.“
„Dann hast du ja echt eine Odyssee hinter dir. Verglichen mit dem, was du erlebt hast, ist das bei mir echt Jammern auf hohem Niveau.“ Leonhard hatte ein schlechtes Gewissen, dass er so schroff gegenüber dem Fremden gewesen war. „Das wegen vorhin tut mir leid. Ich habe mich unmöglich verhalten.“
„Schon okay“, beruhigte ihn der Straßenmusiker. „Du befindest dich in bester Gesellschaft. Die meisten Leute reagieren ähnlich wie du. Ich bin übrigens Mo!“ Der junge Mann mit der Ukulele streckte Leonhard die Hand entgegen. Dieser zögerte einen Moment lang. „Keine Sorge. Ich habe mir – als ich vorhin auf Toilette war – hinterher brav die Hände gewaschen. Mit Verlaub, das können viele Schlipsträger von sich nicht gerade behaupten.“
„Freut mich, dich kennen zu lernen. Mein Name ist Leonhard.“ Dann reichte auch Leonhard ihm die Hand. „Ist Mo eigentlich dein richtiger Name?“
„Ich muss gestehen, eigentlich heiße ich Moritz. Was hast du jetzt vor?“ wollte der Straßenmusiker wissen.
„Eigentlich bin ich gerade auf dem Heimweg.“ erwiderte Leonhard.
„Und uneigentlich?“ hakte Mo nach. „Ich meine, wenn ich so etwas wie ein Zuhause hätte, würde ich ein anderes Gesicht machen.“
Mo überlegte einen Moment lang. Dann hatte er eine Idee. „Ich möchte bei der Bahnhofsmission vorbeischauen. Bei der Kälte ist es bestimmt nicht so gut, wenn ich heute Nacht irgendwo draußen mein Lager aufschlage. Wie wär's wenn du mitkommst?“
„Ich weiß nicht recht.“ Leonhard war sich unsicher, ob er das Angebot des Straßenmusikers annehmen sollte, da er befürchtete, dass Mo ihn nur aus Mitleid gefragt hatte und ihn in Wahrheit nur für einen Spießer hielt.
„Los, gib dir einen Ruck“, stichelte Mo weiter.
Schließlich willigte Leonhard ein und die beiden Männer zogen gemeinsam weiter. Nach wenigen Minuten erreichten die zwei ordentlich durchgefroren die heiligen Hallen der Bahnhofsmission.
„Hallo Philipp“, begrüßte Mo seinen Kumpel. Als er damals zum ersten Mal dort aufgetaucht war, hatte Philipp gerade seinen Zivildienst begonnen. Inzwischen studierte er Sozialpädagogik, leistete aber immer noch ehrenamtliche Arbeit bei der Bahnhofsmission, da ihm die Kollegen und die Hilfebedürftigen irgendwie ans Herz gewachsen sind.
„Hey, altes Haus, lang nicht gesehen.“ Philipp erhob sich von seinem Schreibtisch. Die Jungs klopften sich zur Begrüßung freundschaftlich auf die Schulter.
„Darf ich dir Leonhard vorstellen“, fragte Mo schließlich. „Er braucht was Ablenkung und ich eine warme Bleibe für heute Nacht.“
„Ich denke, das lässt sich einrichten. Darf ich euch etwas anbieten. Einen Kaffee vielleicht. Oder eine Tasse Tee?“ wollte Philipp wissen.
„Willst du mich auf den Arm nehmen? Also ich glaub's ja nicht.“ Mo tat so, als hätte man ihn zutiefst beleidigt und in seiner Ehre gekränkt. „Ich bevorzuge lieber etwas mit mehr Umdrehungen. Hast du keinen Glühwein hier? Notfalls geht auch der aus dem Tetra Pack.“
„Taucht hier einfach so auf und stellt auch noch Ansprüche“, empörte sich Philipp, natürlich nur aus Spaß. „Sorry Mann, Alkohol haben wir leider keinen da.“
„Ich bin in Null komma nix wieder da“. Dann war Leonhard auch schon zur Tür hinaus.
„Haben wir ihn jetzt verschreckt?“ fragte Philipp und wirkte beinahe ein wenig schuldbewusst. Mo zuckte unterdessen mit den Schultern. Was die beiden nicht ahnten war, dass Leonhard sich in irgendeiner Form erkenntlich zeigen wollte, wenn man ihm schon für heute Nacht Asyl angeboten hatte. Zum Glück hatte der Bahnhofskiosk noch offen, so dass er das bekam, wonach er suchte. Keine Viertelstunde später war er mit drei Flaschen Glühwein wieder zurück. „Das sollte fürs erste reichen.“
„Du bist echt meine Rettung“, zeigte sich Philipp erleichtert. „Dieser verrückte Kerl hier lässt sich am besten mit Alkohol aushalten.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Mo, der daraufhin ein wenig schmollte.
Kurz darauf saßen das eingeschworene Trio im Aufenthaltsraum, vor sich jeweils eine Tasse mit Glühwein, und aß Weihnachtsplätzchen, die eine Kollegin extra für die langen Winterabende mitgebracht hatte.
Plötzlich vibrierte Leonhards Smartphone. Er sah kurz auf das Display und sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
Mo hatte seinen Blick bemerkt und mit einer eindeutigen Handbewegung forderte er das Mobiltelefon ein. Widerwillig schob Leonhard es ihm zu. Mo drückte fix die grüne Hörertaste, um den Anruf entgegen zu nehmen.
„Na endlich“, ertönte am anderen Ende der Leitung eine sichtlich aufgebrachte Frauenstimme. „Kannst du mir mal verraten, wo du steckst?“ Mo musste sich zusammenreißen, damit er nicht anfing lauthals loszuprusten. Dann sagte er mit monotoner Stimme, um eine Bandansage zu imitieren: „Der angerufene Teilnehmer möchte heute Abend mal richtig Spaß haben und steht daher momentan nicht zur Verfügung. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.“ Im Anschluss legte Mo auf.
„Das hast du nicht wirklich getan!?“ stieß Leonhard aus. Seine Gesichtsfarbe hatte sich wie ein Chamäleon von leicht gerötet in kreidebleich gewechselt. Er konnte sich bildhaft vorstellen, wie seine Freundin zuhause in diesem Moment toben musste.
„Wie du siehst, ich bin zu allem fähig!“ warnte Mo ihn vor. „Was hast du eigentlich an Weihnachten vor?“
„Ich fürchte, mir blüht das volle Familienprogramm.“ Leonhard graute davor, sodass er am liebsten das Weite suchen würde.
„Falls dir das zu viel Harmonie sein sollte, wir veranstalten auch in diesem Jahr wieder eine Weihnachtsfeier für die Obdachlosen und können jede helfende Hand gebrauchen. Du kannst es dir ja mal überlegen!“ Mo musste plötzlich gähnen. Er erhob sich von seinem Stuhl und schnappte sich seine Isomatte und die Decke und suchte sich im hintersten Eck des Aufenthaltsraumes einen Schlafplatz.
„Was ist mit dir? Ich denke nicht, dass du heute Nacht noch in die Kälte raus willst!?“ Philipp sah Leonhard fragend an, der als Antwort leicht mit dem Kopf schüttelte. „Dann will ich dir mal das Equipment für eine erholsame Nacht zusammensuchen.“ Und kurz darauf kehrte die Nachtruhe in der Bahnhofsmission ein.
Schließlich war es soweit und der Heiligabend stand vor der Tür. Leonhard hatte seiner Familie klar zu verstehen gegeben, dass man in diesem Jahr auf ihn verzichten müsse. Und obwohl er somit nicht noch last minute die letzten Weihnachtsbesorgungen zu erledigen und mit dem Wagen stundenlang durch die Gegend zu fahren hatte, nur um ja auch den perfekten Weihnachtsbaum mit nach Hause zu bringen, war er an diesem Morgen zeitig auf den Beinen.
Als er noch etwas verschlafen und noch im Pyjama die Treppe der Maisonette-Wohnung hinunterkam, musste er feststellen, dass seine Freundin bereits abgereist war. Weder ihr Wintermantel, noch ihre Handtasche, noch ihr Trolley befanden sich im Flur. Wenigstens hatte sie ihm eine Nachricht hinterlassen, denn auf dem Spiegel neben der Garderobe klebte ein Post-It, auf dem sie in Eile die Worte „Da du es ja vorziehst, Weihnachten lieber mit deinen neuen Freunden zu verbringen als mit mir bin ich schon zu meinen Eltern gefahren. P.S.: Nach den Feiertagen werde ich meine restlichen Sachen holen.“ gekritzelt hatte.
Ihm kam ein Spruch eines seiner früheren Vorgesetzten in den Sinn, als Leonhard diesem offenbart hatte, sich um eine besser bezahlte Stelle beworben zu haben. Reisende soll man nicht aufhalten, sagte dieser damals, und genau das dachte auch Leonhard in diesem Augenblick.
Er schlurfte ins Badezimmer, rasierte sich und putzte sich die Zähne, sprang fix unter die Dusche und zog sich an. Keine Dreiviertelstunde später stand er an der S-Bahn-Station und wartete auf den Zug stadteinwärts. Leonhard war mit Mo und Philipp zum gemeinsamen Frühstück verabredet. Im Anschluss machten die drei sich an die Arbeit, alles für die bevorstehende Weihnachtsfeier vorzubereiten. Die von einigen spendablen Bürgern gestifteten Präsente mussten eingepackt und der Aufenthaltsraum festlich dekoriert werden. Um das Essen kümmerten sich glücklicherweise die freiwilligen Helfer der städtischen Tafel und eine Delegation der Landfrauen.
Gegen 18 Uhr kamen dann die ersten Gäste. Sie kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie den strahlend leuchteten Weihnachtsbaum erblickten und die vielen Geschenke, die um ihn herumlagen. „Wenn die wüssten, dass der nur aus Plaste ist“, scherzte Mo in bestem berlinerischen Dialekt.
Zum ersten Mal seit langem war Leonard mit sich und der Welt zufrieden und hatte das Gefühl, endlich mal etwas Sinnvolles in seinem Leben getan zu haben. Ihm war bewusst geworden, dass es nicht darauf ankommt, den perfekten Job zu haben, ein teures Auto und viel Geld zu besitzen oder eine perfekte Beziehung zu führen – vielmehr sind es die kleinen Glücksmomente, die einem hier und dort begegnen, die das Leben wirklich bereichern. Und das Strahlen in den Augen der Obdachlosen zu sehen, war definitiv einer davon.

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