Veröffentlicht: 18.10.2021. Rubrik: Persönliches
Mut wird belohnt
Meine Eltern hatten das nicht verstanden: Selbst an ganz heißen Sommertagen hatte ich als Kind nicht barfuß laufen wollen. Ich traute mich einfach nicht, denn es war mir irgendwie peinlich, anderen meine Füße zu zeigen. Sandalen hatte ich, aber die trug ich immer mit Söckchen.
Heute weiß ich nicht mehr, was der Auslöser gewesen war. Ich weiß nur noch: Es war gegen Ende des ersten Schuljahres. Da sagte ich an einem Sommermorgen zu meiner Mutter: "Heute möchte ich keine Söckchen anziehen. Ich möchte vielmehr barfuß in meinen Sandalen zur Schule gehen."
Meine Mutter schien sich über diese Entscheidung zu freuen. Sie gab mir ein T- Shirt und Shorts. Dann schlüpfte ich in meine Kindersandälchen. Mit dem Schulranzen auf dem Rücken marschierte ich los. Ich weiß noch, dass ich vom dem Gefühl der bloßen Füße in den Sandalen geradezu überwältigt war. Es fühlte sich so frei, so angenehm, so herrlich an.
Unterwegs traf ich meine Klassenkaeradin Ute. Auch sie war barfuß in ihren Sandalen; und es war ihr auch gleich aufgefallen, was an mir anders war. "Thomas, du bist barfuß!" sagte Sie. "Das ist im Sommer ja auch das Beste." Für mich hörte es sich an wie "Willkommen Im Club!" Und darum war es mir in diesem Augenblick auch nicht so wie sonst peinlich, ohne Strümpfe zu gehen.
In der Schule war es im Klassenzimmer sehr heiß. Immer wieder bewegte ich genüsslich die Zehen; so, wie ich es bei Ute schon oft beobachtet hatte. Und zwischendurch zog ich die Sandalen unter dem Tisch sogar aus. Das war mutig, denn unsere Lehrerin sah so etwas nicht gerne. Aber ich saß genau hinter dem Pult, und so konnte sie das nicht sehen.
An diesem Tag hatten wir früher Schulschluss, weil hitzefrei war. Es gab auch keine Hausaufgaben. Als ich nach Hause kam, war meine Mutter nicht daheim; nur meine Tante, die ein Stockwerk höher wohnte. Sie meinte, ich könne ja in den Garten gehen; Mama würde sicher gleich kommen.
Dies tat ich; und auf einmal geschah das wie selbstverständlich: An der Haustür zog ich die Sandalen aus und sauste "ganz barfuß" (das ist bei mir der Unterschied zu "barfuß in Sandalen") in dem Garten. Auf dem Weg am Rosenbeet entlang machten meine Füße bei jedem Schritt ein pitschendes Geräusch. Dann ging es über den frischgemähten Rasen. Wie ein weicher Teppich fühlte er sich an. Und die Grashalme gaben ein Gefühl wie ein Mittelding zwischen "Streicheln" und leichtem "Kitzeln".
Schließlich kam ich im Sadkasten an. Bei jedem Schritt rieselten mir die Sandkörnchen zwischen den Zehen hindurch. Ich backte Kuchen und baute Burgen. Aber im Vordergrund war das herrliche Gefühl, das nur jemand haben kann, der sich -endlich- traut barfuß zu laufen.
Später kam meine Mutter nach Hause. Wir aßen zu Mittag; und danach spielte ich weiter barfuß im Garten. Bevor ich dann am Abend ins Haus durfte, brachte meine Mutter eine Schüssel mit Wasser vor die Haustür. Hier wusch ich mir die sandigen, erdigen und gradigen Füße.
Am nächsten Tag war es wieder heiß. Wieder ging ich barfuß in Sandalen zur Schule; und wieder sauste ich nach dem Unterricht ganz barfuß über den Gartenweg, dass es nur so pitschte. Wie ich dieses Geräusch bis heute liebe! Denn es macht mir deutlich: Es ist Sommer, du brauchst keine Schuhe und Strümpfe. Vielmehr kannst du nach Herzenslust barfuß laufen. Bis heute gibt es für mich in der heißen Jahreszeit nichts Schöneres. Und der Mut von damals wird damit jedes Jahr neu belohnt.