Veröffentlicht: 20.09.2021. Rubrik: Spannung
Amnesie
Amnesie von Marie Chapeau
Sie hatte sich auf diese Kunstausstellung gefreut. Schon immer einmal wollte sie sich Werke von Salvador Dali anschauen. Eine Kunstausstellung war ganz gut, um sich zu treffen. Es war ein neutraler Ort, man galt als musisch interessiert und man erregte kein Aufsehen, wenn man sich hier mit jemandem traf. Sie fand es sehr wohltuend, in das hektische Getriebe der Altstadt einzutauchen. Hier pulsierte das Leben, anders als in der kleinen verschlafenen Stadt, aus der sie kam. Sie schaute auf ihre Uhr, nein, sie musste sich nicht beeilen. Sie wollten sich erst in zwei Stunden treffen. Sie konnte also vorher noch in Ruhe einige Bilder anschauen.
In der Galerie war es sehr ruhig. Sie schaute sich gerade Dalis ‚Femme flambée’ an, ja, genauso fühlte sie sich in letzter Zeit auch, flambiert. Im nächsten Raum waren die ‚zerfließenden Uhren‘ von Dali. Auch ihr zerfloss die Zeit unter den Händen. Könnte sie doch einiges zurückdrehen, aber nun musste es doch irgendwie weitergehen.
Da tauchte auch schon ihre Freundin auf. Die beiden setzten sich in das kleine Café am Eingang.
„Hast du alles geregelt?“
„Klar, ich habe es auf mehrere Bankkonten verteilt, so wie du es mit mir besprochen hattest.“
„ Das ist vernünftig von dir, man soll nie alle Eier in ein Nest legen. Ich wünschte, ich hätte auch so einen Gewinn gemacht. Was hast du jetzt vor?“
„So genau weiß ich es noch nicht. Zunächst bleibe ich noch eine Weile in meiner gewohnten Umgebung. Aber ich glaube, dann gehe ich später in den Süden, vielleicht sogar für immer, wer weiß.“
„Ich wünsche dir viel Glück. Melde dich doch einmal wieder. Vielleicht kann ich dich ja im sonnigen Süden besuchen.“
„Ja, natürlich“, sie verabschiedeten sich, Küsschen rechts und links.
Wenn die wüsste. Nein, der Süden musste noch warten. Die Ermittlungen
waren noch nicht ganz abgeschlossen. Sie musste sich auch noch irgendwas einfallen lassen, denn die beiden Freundinnen von Jasmin versuchten alles, um ihr zu helfen. - Mist, warum mischten die sich denn ein?
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Hanne zitterten die Hände, so etwas hatte sie bisher nur im Fernsehen gesehen, das war ein anonymer Brief:
„Mischen Sie sich nicht ein! Es könnte Ihnen schlecht bekommen…“ Das musste sie gleich einmal Hilde erzählen.
Hilde meinte: „Aha, der getroffene Hund bellt. Unser Bauchgefühl hat uns also nicht getäuscht. Da steckt noch jemand anderes dahinter. Jetzt bleiben wir erst recht am Ball. Du bist doch auch der Meinung, dass wir Jasmin helfen müssen. Sie hat das im Leben nicht getan, auch wenn sie jetzt in Untersuchungshaft sitzt. Was meinst du?“
„Genau, wir machen weiter.“
Vielleicht wäre es aber gut, wenn du die nächsten Tage bei uns wohnst, denn nach diesem Brief habe ich ein ungutes Gefühl, wenn du ganz allein in deinem Haus am Waldrand bist. Manche Täter machen ihre Drohungen wahr.“
„Gut, das kann ich machen.“
Sie riefen die Kommissarin an, die ihnen ihre Visitenkarte gegeben hatte, und informierten sie über den anonymen Brief. Das war natürlich sehr merkwürdig und warf ein neues Licht auf den Fall. Die Kommissarin ließ den anonymen Brief sicherstellen, leider ergaben sich keine Spuren, da die Buchstaben aus verschiedenen Magazinen ausgeschnitten waren und der Täter mit Handschuhen gearbeitet hatte. Nach diesem Zwischenfall berief sie aber die Mordkommission zu einer neuen Beratung des Falles ein. Sie fasste noch einmal zusammen, was sich bisher ergeben hatte:
Jasmin Schmitt, die Angeklagte, wurde am Samstag von ihrer Freundin,
Hanne, die das Büro putzen wollte, bewusstlos neben der Leiche ihres
Mannes, Stefan, angetroffen.
Hanne alarmierte sofort den Notarzt. Der Notarzt konnte nur noch den Tod von Stefan feststellen. Er war an einer Stichwunde verstorben. Die Autopsie würde Näheres ergeben. Die Tatwaffe musste wohl ein spitzer, harter Gegenstand sein, den die Spurensicherung aber zunächst noch nicht gefunden hatte.
Jasmin atmete noch und man konnte sie reanimieren. Sie war sehr desorientiert und kam ins Krankenhaus. Auch nach Tagen und vielen polizeilichen Befragungen konnte sie sich aber überhaupt nicht an den Ablauf der Ereignisse erinnern. Nun schossen natürlich die Gerüchte wie Pilze aus dem Boden.
Man munkelte in dem kleinen Ort, dass die Ehe der beiden nicht so gut lief. Es hatte immer wieder Streit gegeben, da der Mann gerne den Don Juan spielte, und so vermutete man eine Beziehungstat.
Die beiden Freundinnen, Hanne und Hilde, legten aber ihre Hand ins Feuer für Jasmin. Sie berichteten, dass sie sich längst schon mit den Affären ihres Mannes abgefunden hatte und dass sie nur wegen ihrer beiden Kinder bei ihm geblieben war. Sobald die Kinder groß genug waren, wollte sie sich scheiden lassen. Ansonsten ging jeder dem anderen aus dem Weg.
Nun ja – eine Aussage von Freundinnen, die konnte wahr sein oder auch nicht. Aber dieser anonyme Brief war doch sehr merkwürdig. Hier musste man nun genau recherchieren.
Auch das berufliche und private Umfeld des Mordopfers sollte nochmals genau durchforstet werden. Die Kommissarin, Frau Lamarche, war sich gar nicht mehr so sicher, ob sie schon den richtigen Täter, bzw. die Täterin gefunden hatten.
Stefans Büro wurde nochmals genau unter die Lupe genommen. Er hatte vor zehn Jahren ein kleines Softwareunternehmen gegründet.
Anscheinend lief es ganz gut, denn er hatte sich ein recht repräsentatives
Haus gebaut und fuhr immer schnelle Autos. Eine Sekretärin, Lea,
kümmerte sich um alles Schriftliche. Sie war zuverlässig, ihre Buchführung stimmte und es hatte nie Probleme mit dem Finanzamt gegeben. Das hatten die Recherchen ergeben.
Lea hatte eine ‚Vertrauensstellung‘ inne und hinter vorgehaltener Hand munkelte man, dass das Vertrauen sehr weit ging, aber das sagte niemand so frei heraus.
In letzter Zeit war Lea jedoch irritiert, dass immer wieder eine Frau anrief, die ihren Chef dringend sprechen wollte, da sie ihn über sein Handy nicht erreichen konnte. Es sei sehr dringend. Solche dringenden Anrufe diverser anderer Damen waren für sie nichts Neues und ärgerten sie maßlos. Überhaupt fragte sie sich in letzter Zeit, ob sie die Launen ihres Chefs noch länger ertragen wollte. Vielleicht sollte sie es machen wie ihre Vorgängerin, die hatte schon vor zwei Jahren gekündigt. Sie beide kannten sich noch aus Schulzeiten und telefonierten ab und zu. Linda war nach Frankfurt gezogen und arbeitete nun bei einer Bank.
Wieder läutete das Telefon und die Frau, die schon mehrmals angerufen hatte, wollte ihren Chef wieder dringend sprechen. Dieses Mal ließ sie sich nicht abwimmeln: „Sagen Sie bitte Ihrem Chef, dass er umgehend die neue Software schicken soll, sonst werden wir die sehr üppige Anzahlung gerichtlich zurückfordern und auch sein neues Sicherungssystem, das er uns verkaufen will, kann er dann vergessen. Richten Sie das Ihrem Chef aus.“
Wütend wurde aufgelegt. Lea hatte den Namen der Firma nicht genau verstanden, aber eines wusste sie, diese Software war in ihrer Buchhaltung und ihren Geschäftspapieren nicht aufgetaucht.
Interessant!
Warum sollte eigentlich nur er abkassieren, sie wollte von dem Kuchen auch etwas abhaben. Irgendwo musste er doch Unterlagen von diesem
Geschäft haben. Sie durchsuchte seinen Schreibtisch, aber nichts. Sein
Computer war so stark geschützt, da kam sie nicht rein, das wusste sie.
Blieb noch der Tresor, sein Heiligtum.
Vielleicht gab es ja dort noch andere Unterlagen, die an der Steuer vorbeiliefen. Stefan wechselte häufig seine Codenummern und zwar immer am Freitagabend, das wusste sie. Sie musste ihn an diesem Freitag dabei beobachten, aber wie?
Sie hatte eine Idee, es gab doch in letzter Zeit recht niedliche kleine
Kameras.
Es hatte funktioniert. Sie besaß die aktuelle Codenummer. Jetzt
musste sich nur noch eine günstige Gelegenheit ergeben. Es war wie
verhext, die ganze Woche saß Stefan wie festgenagelt in seinem Büro
am Computer.
Erst am Freitag hatte er einen Außentermin. Er verabschiedete sich
und wünschte ein schönes Wochenende, da er erst gegen Abend
zurückkäme.
Lea hatte noch einiges an ihrem Computer zu erledigen und so war es schon früher Nachmittag, bis sie sich die Handschuhe anzog und die Codenummer ausprobierte. Siehe da, es klappte auf Anhieb.
Im Tresor lag ein ganzer Stapel an Unterlagen, die sie alle erst einmal durchlesen musste.
Dabei stieß sie auf die Papiere und auch auf die Aufzeichnungen zu einer neuen Software, von der sie noch nie etwas gehört hatte, und die Stefan wohl auch so nebenbei noch verhökern wollte. Sie war so konzentriert, dass sie nicht gehört hatte, dass er leise hereingekommen war.
Er lief wütend auf sie zu und wollte ihr die Unterlagen entreißen, aber sie wehrte sich, es kam zu einem Handgemenge, sie griff nach dem spitzen bronzenen Brieföffner auf seinem Schreibtisch und stach zu.
Er fiel ohne einen Ton zu Boden, sie nahm die Papiere aus dem Tresor und stopfte sie in ihre Handtasche. Sie schloss den Tresor, er rührte sich noch immer nicht, er blutete auch kaum, schließlich hatte sie sich ja nur mit einem Brieföffner gewehrt, so schlimm konnte das ja gar nicht
sein. Er würde bald wieder aus seiner Ohnmacht aufwachen. Wenn er
klug wäre, würde er den Mund halten, denn sonst könnte sie so einiges
ausplaudern. Dann verließ sie das Büro.
Am Samstag läutete ihr Telefon gegen Mittag, es war die Polizei, man hatte Stefan tot in seinem Büro gefunden und neben ihm lag seine Frau, bewusstlos, sie konnte sich an nichts erinnern, denn sie hatte anscheinend eine komplette Amnesie.
Man bestellte Lea aufs Kommissariat. Sie wusste von nichts, sie hatte wie immer am vorigen Tag um 18.00 Uhr Feierabend gemacht und das Büro abgesperrt.
Sie als Sekretärin war bestürzt, konnte aber nichts Genaueres dazu sagen. Sie wusste nur, dass Stefan Schmitt sich am Freitagmorgen verabschiedet hatte, da er eine Firma in der Gegend von Koblenz besuchen wollte, es ging um eine neue Computersoftware. Nein, den Namen der Firma wusste sie nicht so genau, aber den konnte sie recherchieren. Sie war ja nur die Sekretärin und erledigte das, was man ihr sagte. Sie hatte an diesem Tag gegen achtzehn Uhr das Büro verlassen.
Am Schluss meinte sie nur traurig: „So ein Pech, jetzt muss ich mir einen neuen Job suchen. Wenn Sie noch Fragen haben, stehe ich Ihnen jedoch jederzeit zur Verfügung.“
Die Spurensicherung war gekommen und hatte alles akribisch untersucht, aber man hatte keine Fingerabdrücke einer fremden Person gefunden oder der/die Täter/in hatte mit Handschuhen gearbeitet.
Man hatte Stefans Computer abgeholt und auch alle Papiere aus dem Büro und aus dem Safe mitgenommen.
Der Fall galt aber bald als ziemlich eindeutig. Es war garantiert eine Beziehungstat, die betrogene Ehefrau hatte sich anscheinend an ihrem Mann gerächt, hatte zum Brieföffner gegriffen, zugestochen und war bei dem Gerangel mit dem Kopf auf den Schreibtisch geknallt und ohnmächtig geworden. Nur die beiden Freundinnen und ihre Aussagen musste man noch berücksichtigen, aber so dringend war das wohl nicht. Die beiden liebten es anscheinend, Amateurdetektivinnen zu spielen und sich wichtig zu machen.
Der Fall würde bald abgeschlossen sein.
Lea hatte das neue Computerprogramm sehr schnell verkaufen können. Sie hatte ein eigenes IT-Büro aufgemacht, denn junge Computerspezialisten, die dringend einen Job suchten, gab es immer wieder und so fing ihr Geschäft an, erfolgreich zu laufen. Ihre Geschäftsbriefe öffnete sie immer mit einem sehr schönen, spitzen Brieföffner. Er schien ihr Talisman zu sein.
Im Moment hatte sie, nach langen Monaten der Gründung ihres neuen Geschäfts, eine längere Auszeit genommen. Sie fand es herrlich nun auf diesem Kreuzfahrtschiff zu sitzen, vor allem da die Sonne schien und sie gemütlich auf ihrer Liege am Pool lag und einen Krimi las über einen Täter, der an Amnesie litt.