Veröffentlicht: 09.07.2021. Rubrik: Unsortiert
Annas Eltern
Philipp und Vera führten das schwierigste Gespräch ihres bisherigen Lebens. Sie mussten ihrer achtjährigen Tochter Anna erklären, dass sie sich scheiden lassen wollten.
Fassungslos hatte Anna ihnen zugehört, dann brach es aus ihr heraus: „Das könnt ihr nicht tun! Ihr seid doch meine Eltern!“
„Ja, das sind wir, und das bleiben wir auch!“, sagte Vera. „Wir werden dich immer genauso lieb haben wie jetzt!“
„Aber warum bleibt ihr denn nicht einfach zusammen?“
„Anna“, seufzte Philipp, „es ist im Leben nun mal so, dass Menschen sich trennen. Denk mal an Lia! Sie war im Kindergarten deine beste Freundin, und jetzt guckt ihr euch nicht mehr an. So ist das bei Erwachsenen auch.“
Plötzlich sprang die Achtjährige auf. „Ich laufe weg“, schrie sie, „und komme nur wieder, wenn ihr zusammenbleibt!“ Schon hatte sie die Haustür aufgerissen. Philipp und Vera stürzten ihr nach, doch es war zu spät. Bremsen quietschten…
Der Notarzt konnte nur noch Annas Tod feststellen.
*
Die Beerdigung und alles, was bei einem Sterbefall zu regeln ist, hatten Philipp und Vera wie unter einer Käseglocke hinter sich gebracht. Sie hatten funktionieren müssen. Jetzt, einige Wochen später, saßen sie im Wohnzimmer und starrten mit leeren Augen vor sich hin.
„Was wird denn nun aus der Scheidung?“, fragte Vera schließlich.
Philipp zuckte die Schultern. „Von mir aus können wir auch zusammenbleiben.“
Stirnrunzelnd erwiderte Vera: „Das brächte Anna jetzt nicht mehr zurück.“
„Nein, aber… es ist doch jetzt alles anders geworden. Wir haben zusammen so Schreckliches durchgemacht… sollen wir es nicht doch noch einmal miteinander versuchen?“
*
Vierzehn Monate später bekam das Paar seine zweite Tochter. Die kleine Marie machte ihnen viel Freude. Als sie laufen konnte, bemerkten die Eltern allerdings etwas, was sie mit Ärger und auch Sorge erfüllte. Marie kam nicht, wenn man sie rief. Jedenfalls nicht sofort. Erst wenn man nach zwei oder drei Versuchen schließlich entnervt schrie: „Kind, komm jetzt endlich!“, trottete sie heran und sah einen mit großen Augen an.
Vera ging mit ihr zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der jedoch an ihrem Gehör keine Beeinträchtigung feststellen konnte.
„Sie ist wohl einfach nur bockig“, meinte Philipp, als er mit seiner Frau abends – Marie war schon im Bett – bei einem Glas Wein zusammensaß.
„Aber so geht es doch nicht weiter“, sagte Vera, „sollen wir sie mal zu einem Kinderpsychologen bringen?“
„Ja, das ist eine gute Idee. Mit Anna hatten wir das Problem nie.“
Der Name der tödlich verunglückten Tochter traf Vera ins Herz. Mit einem lauten Seufzer sagte sie: „Anna!“
Die nur angelehnte Wohnzimmertür ging auf. Ins Zimmer trat die kleine Marie und fragte, noch halb im Schlaf: „Mama? Warum hast du mich gerufen?“