Veröffentlicht: 16.06.2021. Rubrik: Fantastisches
Felidae Mors
Die Katze war alt. Schon lange fing sie keine Mäuse mehr. Schnurren tat sie kaum noch. Selbst ein Miau war seit Tagen nicht mehr aus ihr gekommen. Wie an den Nachmittagen zuvor, lag sie still im großen Saal des Herrenhauses auf dem kostbaren Perserteppich, der schon den Boden vor dem Kamin zierte, als sie noch ein kleines verspieltes Kätzchen gewesen war. Müde blickten die Augen der Katze in das prasselnde Feuer des Kamins. Im flackernden Flammenspiel kehrte in den Wachträumen ihres getrübten Geistes noch einmal die Erinnerung an vergangene Tage zurück. Draußen vor der geriffelten Scheibe des großen Fensters vielen die ersten Schneeflocken von einem wolkigen Himmel auf das vorher grüne Land hernieder. Allmählich tauchten sie Bäume und Gräser in eine weiße Decke. Ihr Kommen kündigte einen langen kalten Winter an.
Früher war die Katze an jedem Tag, zu jeder Jahreszeit umhergestreift. Ihr Weg hatte sie stets über das gesamte Anwesen ihres zweibeinigen Herrn und darüber hinaus geführt. Ein kleines Glöckchen hing damals um ihren Hals. Gewarnt von ihren leisen Klingeln flogen Vögel vor ihr auf und wetzten aufgeschreckte Kaninchen davon. Ihr bester Freund war ein Igel namens Moritz gewesen. Viele frohe Stunden hatten die Zwei in ihrer ungewöhnlichen Freundschaft miteinander verbracht. Moritz war der einzige gewesen, den sie immer an ihrer Seite duldete. Andere herumstreunende Katzen vertrieb sie jedoch stets von dem Anwesen. Es war eine wunderbare Zeit gewesen.
Schon seit Jahren hatte sie Moritz nicht mehr gesehen. Was trieb die alte Stachelhaut heute?
Plötzlich fiel ein dunkler Schatten auf die Gestalt der Katze. Sie wandte ihren Kopf herum und sah neben sich eine andere Katze stehen, deren Fell pechschwarz war. Der reflektierende Flammenschein des Kaminfeuers spiegelte sich nicht in den grünen Augen der schwarzen Katze, die sie eindringlich ansahen. Niemals zuvor hatte die alte Katze diesen Artgenossen in dem Herrenhaus gesehen. Sie gehörte nicht zu den jungen Herumtreibern, die auf dem Hof inzwischen ihre früheren Aufgaben übernahmen.
„Wer bist du?“, fragte die alte Katze.
„Mein Name ist Felidae Mors“, antwortete das Schwarzfell. „Ich komme, um dich von hier fortzugeleiten. Deine Zeit an diesem Ort ist abgelaufen.“
Ein Ausdruck zwischen Neugierde und Verwirrung legte sich auf das Gesicht der alten Katze. „Wohin willst du mich geleiten?“
„In ein anderes Reich. Dort ist es wunderschön. Viele die so sind wie du, erwarten dich an diesem Ort.“
Die alte Katze wandte ihr Gesicht wieder dem Kamin zu. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Fast jede Bewegung tut mir weh. Ich würde lieber vor dem warmen Feuer liegen bleiben.“
„Du wirst nie wieder Schmerzen spüren, das verspreche ich dir“, gelobte Felidae Mors. „Nun komm, der Moment zum gehen ist gekommen.“
Schwerfällig erhob die Katze sich von dem Perserteppich. Tatsächlich verspürte sie keinerlei Schmerzen. Sie folgte der schwarzen Katze ein Stück durch den Raum, hin zu einer Stelle, wo sich ein Tunnel aus grauem Nebel öffnete.
Nachdem sie den Tunnel mit den Nebelwänden betreten hatte, blieb die Katze kurz stehen. Sie wandte sich halb um, um sich das Fell zu lecken. Ihre Zunge fuhr jedoch hindurch, ohne dass sie wie sonst die weichen Fellhaare spürte. Dann blickte die Katze zurück. Auf dem Perserteppich vor dem Kamin lag noch eine weitere Katze, genau an der Stelle, an der sie zuvor gelegen hatte. Sie schien zu schlafen, denn ihre Augenlider waren geschlossen und sie hatte ihre vier Beine von sich gesteckt. Auf einmal erkannte die Katze, dass sie es selber war, die dort lag. Doch sie schlief nicht.
„Folge mir“, sagte eine sanfte Stimme. Es war die Stimme der schwarzen Katze. Hypnotisiert von ihrem schönen Klang, drehte sie sich um, wobei die Katze vergaß, was sie gerade gesehen hatte. Sie folgte Felidae Mors schwarzer Gestalt durch den Tunnel.
Hinter dem anderen Ende des Tunnels erstreckte sich eine grüne Wiese auf der viele Katzen umherliefen. Im Zentrum der Wiese erhob sich ein breitstämmiger Baum mit einem weitumspannenden Kronendach, dessen Blätter wie Sterne funkelten.