Veröffentlicht: 10.04.2021. Rubrik: Unsortiert
Deutschland schläft sich gesund.
Deutschland schläft sich gesund.
Lust hatte ich überhaupt keine. Diese Video-Sessions waren unpersönlich, langweilig und zogen sich häufig über Stunden dahin. Mein Rücken schmerzt schon nach einer halben Stunde in diesem billigen Drehstuhl zuhause in meinem Arbeitszimmer. Und immer in der Bude, keine Möglichkeit der Familie zu entkommen. Die Kinder genervt durch online-Unterricht, ohne die Freunde zu sehen. Besonders mein 17-jähriger, der vermisst seine Clique, die Feiern mit Gleichaltrigen und all das, was in dem Alter das Leben ausmacht.
Und diese Lockdowns kamen wie Perlen an der Schnur. Wenn man schon dachte: gleich ist alles überstanden, wenn die Lockerungen einem das Gefühl eines halbwegs normalen Lebens zurückgaben, zogen schon wieder die dunklen Virus-Wolken am bleiernen Himmel der Intensivstationen auf und alles begann wieder von vorne. Und keiner in der Regierung hatte noch die Hoffnung, dass das demnächst wieder aufwärts ginge. Die Nervosität wer mit Händen zu greifen, da war ich denn doch schon wieder dankbar, dass ich nicht mit den Kolleginnen und Kollegen zusammen war. Die Stimmung wäre sicher noch deprimierter. Wir hatten nämlich das große Talent uns immer weiter herunterzuziehen, malten die Schwierigkeiten in den düstersten Farben und hatten für Lösungsansätze meist schon die Hindernisse im Kopf parat.
Daher war der Anruf meines Vorgesetzten, des Herrn Staatssekretär im Kanzleramt, der perfekte Schlag in die Magengrube. “Innocent, ich brauche Dich heute Abend für die Bund-Länder-Schalte!” Innocent bin ich, Innocent Grün, fleißiger Mitarbeiter im Bundeskanzleramt und Ministerialdirigent und damit nach meinen Maßstäben schon weit oben auf der Karriereleiter. Aber so weit oben wollte ich nun doch wieder nicht sein. “Herr Staatssekretär, das ist ja super, vielen Dank für das Vertrauen”, immer schön schleimen, “aber das haben bisher doch immer Sie gemacht, nur deswegen hat das doch auch immer so gut funktioniert.” So, das war doch jetzt ein geniales Argument, warum ich dafür nun mal gerade nicht in Frage kam. “Ja, ja, das ist wohl richtig, aber, wenn ich ehrlich bin, das ging auch meist ohne große Beteiligung von mir und gerade heute Abend kann ich überhaupt nicht. Und für Sie wäre das doch mal eine gute Gelegenheit, mit Angela zusammenzuarbeiten. Ich vertraue ihnen da vollkommen.”
Der Blödmann ließ immer wieder raushängen, dass er sich mit der Kanzlerin duzte, dabei war das in diesen Kreisen total normal und sagte über die tatsächlichen Beziehungen Null aus. Mir schwante Böses: wahrscheinlich war diese Bund-Länder-Schalte gerade die, vor der wir alle Angst hatten. Nämlich die, die nicht mehr richtig funktionierte, die keine Beschlüsse hervorbrachten, die gut umsetzbar waren oder nur welche, die nicht funktionierten und diese verdammte Inzidenzzahl nicht mehr nach unten brachte. Und dann wollte mein lieber Staatssekretär natürlich nicht bei dieser Verliererrunde dabei gewesen sein. Für mich war der Zug aber wohl schon abgefahren. Jetzt konnte ich kaum mit einer dringenden Verabredung, einer totkranken Mutter oder Oma oder sonst Etwas auffahren, das hätte ganz an den Anfang des Telefonats gehört.
“Innocent, Du machst das sicher sehr gut. Da ist auch nicht viel zu tun, Du musst nur die Kontakte zu den Hintergrundexperten bei uns halten. Du weißt doch, Ärzte, Virologen, Psycho-Heinis und diesen ganzen Zoo. Die Daten stellt Dir mein Vorzimmer zusammen. Ach ja, Du kannst natürlich auch auf Frau Rose und Herrn Vetterli zurückgreifen, die habe ich für heute Abend dienstverpflichtet.”
Na immerhin, Frau Rose war seine Chefsekretärin und Herr Vetterli sein Büroleiter. Beides erfahrene Bürokraten, die würden mich schon nicht im Sticht lassen. Ok, unter den Umständen konnte das vielleicht doch noch ganz gut ausgehen.
“Also gut, das hört sich für mich so an, als könnte ich da nicht Nein sagen. Danke noch mal, dass Du dabei an mich gedacht hast.” “Na klar doch, Du bist doch einer meiner besten Mitarbeiter mit, sage ich doch immer.” Typisch dieser Satz: ich bin nicht sein bester Mitarbeiter, sondern nur einer seiner besten Mitarbeiter - aber noch mit vielen anderen. Wir klärten dann noch genauer meine Aufgaben, die vorbereiteten Dokumente und den Technikeinsatz und dann war ich auch schon alleine mit der neuen Aufgabe.
Der Abend fing für mich schon um 17:00 Uhr mit den Vorbereitungen in meinem Büro im Kanzleramt an. Ich war alleine mit meinem Computerbildschirm und der integrierten Kamera. Die Verbindung zum Sekretariat und den Experten hatte Herr Vetterli übernommen, mit dem war ich über einen zweiten Bildschirm direkt verbunden und konnte ihm beim Sushi-Kauen zusehen. Ein Abendessen hatte ich auch noch nicht, Frau Rose hatte mir aber ein paar Schnitten, etwas Salat und eine kleine Pizza bestellt. Außerdem hatte ich mir zur Stärkung eine gute Flasche Wein von daheim mitgebracht. Sah ja eh keiner, immerhin ein Vorteil der Videokonferenzen.
Es begann ganz unspektakulär, die Länderchefs und die Kanzlerin begrüßten sich artig und begannen damit, die aktuelle Situation zu besprechen. Ich und die Helfertruppen in den Ländern hatten sich mit ausgeschalteten Mikrofonen und Kameras im Hintergrund zu halten. So konnte ich in Ruhe meine Pizza kauen und sie schon mal mit einem Schluck Wein runterspülen. Wirklich ein gutes Tröpfchen, das ich dabeihatte.
Die ersten zwei Stunden vergingen, ohne dass ich einen Einsatz hatte. Auch mein Helferkollegen in den Ländern waren nicht gefragt. Aber dann: “Herr Grün, wir brauchen mal die virologische Einschätzung”. Die Stimme meiner Kanzlerin riss mich aus meinem beschaulichen Starren auf den Bildschirm. “Kommt sofort,” immerhin kam meine Antwort wie aus der Pistole geschossen, wenn ich auch fast mit meinem Stuhl hinten rüber gekippt wäre. Das war wirklich einfach und ich konnte nach kurzer Zeit schon wieder den wissenschaftlichen Ausführungen unseres Experten lauschen. Mir wurde klar, dass wir dringend die Zahl der Kontakte vermindern müssten. Die Impfungen liefen noch so langsam, dass wir erst in neun bis elf Monaten die Immunisierung im Griff hätten. Dann war da noch die neue englisch-südafrikanische Mutante, die sich schneller ausbreitete und vielleicht sogar unseren hochgelobten Vakzinen trotze. Der Experte sagte etwas von “ … mindestens 30 Tage harter Lockdown” was der gesamten Chefrunde den Schweiß auf die Stirnen trieb.
“Völlig ausgeschlossen,” war dann auch der Kommentar aus Nordrhein-Westfalen, “das kostet uns die Hälfte der Wählerstimmen.” “Nur, weil ihr bisher noch nichts auf die Kette bekommen habt,” kam der bayerische Kommentar dazu. “Ihr habt doch auch nur Versprechungen gemacht, gehalten habt ihr nicht mehr als Kollege Laschet.” Ich hätte nicht gedacht, dass Schleswig-Holstein den Nordrhein-Westfalen beispringen würde. Ich hätte auch nicht gedacht, dass der Ton so rau würde. Das meinte wohl auch unsere Bundeskanzlerin: “Meine Damen und Herren, wir wollen doch konstruktiv mit der Sache umgehen. Ich bin sicher, wir kriegen das hin. Ist doch auch erst zehn Uhr, der Abend ist noch jung.”
So einfach war es aber nicht, die Diskussion ging weiter, mein Expertenstab in Warteposition wurde allerdings nicht gebraucht.
Durch die kalorienreiche Abendmahlzeit zusammen mit einer halben Flasche Wein dämmerte ich dann wie betäubt dahin und hörte der Debatte nur noch mit einem halben Ohr zu. Immer gelangten Wortfetzen an meine Ohren: “Besuchsverbote”, “Ausgangssperre”, “Reiseverbote” waren die häufigsten. Fast hätte ich in dieser Kakophonie verschiedener Vorschläge und Ideen meinen Einsatz verpasst. “Herr Grün, was sagen denn unsere Experten dazu?” die Stimme meiner Chefin riss mich wieder fast vom Stuhl. Experten, was für Experten? Schlaf- und Weintrunken riss ich mich zusammen: “Deutschland schläft sich gesund!” kam es automatisch aus meinem nur halbwachen Hirn. “Was soll das, sind Sie wach?” Angela hörte sich ärgerlich an und das letzte was ich wollte, war aus dieser Nacht als verpennter, unfähiger Bürokrat hervorzugehen. Mein Gehirn schaltete einen Gang höher.
“Wir brauchen doch eine möglichst vollständige Kontaktsperre. Und da war unsere Idee, dass wir für einige Tage alles zurückfahren. Das geht am besten, wenn alle zu Hause bleiben. Und wenn wir schon alle zu Hause sind, können wir auch gleich allen empfehlen ruhig im Bett liegen zu bleiben. Dann ist wenigstens sichergestellt, dass keine Ansteckungen mehr stattfinden.”
Ich hörte aufgeregtes Gemurmel im Hintergrund und den einen oder anderen Lacher. “Vollkommen unsinnig,” schaltete sich der Ministerpräsident von Sachsen ein. “Die Leute bleiben nie und nimmer mehr als einen Tag zu Hause. Und im Bett schon gar nicht!” “Wir meinen, wenn man Anreize setzt, schon,” ich hatte mich jetzt ganz einfach zum Oberhaupt der Expertenriege erklärt, die hörten hoffentlich nicht zu. Einschalten konnten sie sich nur, wenn ich oder Herr Vetterli es zuließen. “Was sollen denn das für Anreize sein?” diese bohrende Frage kam natürlich aus dem Mund der entzückenden Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz.
“Zunächst mal ein tolles Fernsehprogramm, mit tollen Gewinnmöglichkeiten. Aber nur, wenn man auch die ganze Zeit bei der Stange bleibt!” schob ich noch schnell nach. “Love Island oder was?” Klar, das war die spöttische Stimme aus Schleswig-Holstein. “Warum nicht, wenn die Insel Sylt ist!” Der bayerische Akzent war unverkennbar. “Könnte aber auch Usedom sein,” Frau Schwesig musste natürlich ein heimisches Produkt in die Diskussion bringen.
“Wir dachten da eher an Herrn Raab mit seinen Talenten. Es wäre sehr wahrscheinlich, dass er eine ideale Rateshow für 72 Stunden entwickeln kann.” Dieser Einfall war mir eben noch ganz spontan gekommen, ich war richtig stolz, wie produktiv auch ein Ministerialdirigent sein kann.
“Also Kinder, jetzt ist aber Schluss!” Die Stimme meiner Chefin holte mich und wohl auch den einen oder anderen Teilnehmer der Runde wieder in die graue Wirklichkeit der Corona-Nachtsitzung zurück. “Die Leute wollen doch nicht nur fernsehen, die müssen etwas essen und trinken, wollen Verwandte besuchen oder in die Kirche gehen.”
“Die Kirche könnte ja auch zu Ihnen ins Bett kommen.” Endlich mal ein vernünftiger Vorschlag des Vorsitzenden der CDU und Ministerpräsidenten aus Nordrhein-Westfalen. Ich fühlte dabei allerdings einen unbändigen Lach Reiz: Die katholische Kirche war in ihrer langen Tradition sicher schon häufig in das eine oder andere Bett gekrochen. Ich biss mir auf die Zunge und hörte Herrn Laschet weiter zu. “Online-Gottesdienste sind ja nun wirklich keine neue Erfindung, wir könnten sie dann ja sogar mal ausnahmsweise länger zulassen.” “Aber dann muss es auch Gottesdienste der anderen Konfessionen geben, schließlich sollen auch Muslime und Juden und an was sonst noch geglaubt wird zu Hause im Bett bleiben.” Klar, der grüne MP aus Baden-Württemberg machte in Multi-Kulti. Aber egal, ich merkte aus einem Winkel meines Gehirns, dass die ganze Truppe jetzt anfing, ernsthaft zu diskutieren. Meine Idee war drauf und dran aus der Ecke mit der Aufschrift “Schnapsidee” in den Olymp der politischen Weisheiten aufzusteigen.
Leider kam jetzt wieder die Chefin zum Zuge: “Ich glaube, das reicht jetzt erst einmal. Meine Damen, meine Herren, lassen sie uns wieder zur Sache kommen. Alleine die Versorgung könnten wir ja gar nicht sicherstellen.” Für mich das Signal noch etwas mehr aufzudrehen. Meine geniale Idee wollte ich mir jetzt nicht schon kaputt machen lassen. Wozu hatte ich denn meine Experten hinter mir – wenn die auch nichts davon wussten.
“Care-Pakete, wie nach dem 2. Weltkrieg. Wir versenden “Feiertags-Päckchen”, da kann die heimische Landwirtschaft mal gestützt werden. Und Aldi, Lidl und all die, die bisher vom Run auf die Supermärkte profitiert haben, können auch ihr großes Herz zeigen und Pakete packen, die dann über die Tage reichen. Im Bett braucht man eh nicht so viel.”
“Aber möglichst gesunde Produkte, Obst, Gemüse und so, nicht nur Süßes. Dann tun wir auch was für die Gesundheit der Leute und für den Klimaschutz!” Der Hamburger OB dachte wohl an seine grünen Koalitionäre. “Und wer zahlt das? Und wie wird das verschickt?” Auch dafür war ich inzwischen gewappnet, mein Hirn hatte anscheinend einen bisher noch nicht entdeckten Turbo-Modus: “Zahlen können das Staat und Wirtschaft gemeinsam, ist insgesamt eh billiger als ein ewig langer Lockdown ohne echte Effekte. Und die Verteilung übernehmen DHL, die großen online-Versandhäuser zusammen mit lokalen Organisationen wie dem Roten Kreuz, dem THW und so weiter. Die könne daraus ja auch mal eine Übung machen.”
So ging das noch mindestens eine gute Stunde weiter, Pro und Contra wurden ausgetauscht und ich war in einer mir gänzlich unbekannten Star-Rolle, die mir aber mehr und mehr Spaß machte. Ein Zurück gab es nicht mehr, an Morgen wagte ich nicht zu denken und schon gar nicht an meine ausgebooteten und schamlos benutzten Experten, die ahnungslos vor ihren Kaffeetassen saßen.
Es war dann doch schon ca. 2 Uhr in der Nacht, als eine sichtlich angenervte Kanzlerin schließlich konstatierte: “Also gut, ich habe jetzt genug gehört, ich möchte gerne, dass wir hier und heute abstimmen, ob wir das so machen. Und um eins klarzustellen, wenn die Entscheidung für diese “Schlaf-Idee” ausfällt, müssen sich alle Bundesländer daran halten. Ich möchte nicht, dass Niedersachsen schläft und Hamburg wach bleibt. Ist nur ein Beispiel! Von daher, bitte im Chat abstimmen. Eine Eins heißt wir machen das so, eine Zwei heißt Ablehnung. Enthaltungen sind bei dieser Frage witzlos, entweder dafür oder dagegen.”
In meinem Chatverlauf sah ich die Einsen und Zweien nur so aufblinken. Allerdings war mir sofort klar, dass die Zahl Eins deutlich häufiger dabei war. Und so war das Ergebnis: “11 zu 6 Stimmen für die Schlafphase” keine Überraschung. Die Bundeskanzlerin hatte übrigens dagegen gestimmt.
Entsprechend gereizt kam sie auch rüber. “So, meine Damen und Herren, dann soll es also so sein. Wir setzen Deutschland in den Tiefschlaf, wenn uns das Bundesverfassungsgesetz dann lässt. Sie wissen doch wohl, dass wir mit einer Totalblockade sofort jede Menge Verfassungsbeschwerden bekommen werden. Naja, die würden wir wohl mit fast jeder stärkeren Maßnahme herausfordern. Sei es drum. Und Sie Herr Grün,” jetzt wandte sie sich doch direkt an mich, “Sie sorgen dafür, dass alles so reibungslos wie möglich anläuft. Den Beraterstab nehmen Sie dabei natürlich auch in die Pflicht, wenn die sich schon solch eine Möglichkeit einfallen lassen, sollen sie sich wenigsten bei der Realisierung anstrengen. Herr Vetterli soll dann schon mal die PK für morgen früh vorbereiten. Ich lege mich jetzt hin, das wird morgen sowieso anstrengend genug.”
So, da saß ich jetzt mit der ganzen Verantwortung. Mein Magen rumorte, ich fühlte mich wie ausgespuckt und mir kam jetzt erst zu Bewusstsein, was ich mir da in meinem eitlen Höhenflug eingebrockt hatte. Der Expertenstab würde mich jedenfalls in der Luft zerreißen und meine Karriere könnte ich in den Wind schreiben. Ich könnte froh sein, wenn ich in einer Woche überhaupt noch im Amt sein würde.
Der Expertenstab saß noch bereit, ich konnte mich über die zweite Videorunde direkt an sie wenden. Diese Ansprache würde entscheidend sein. “Meine Damen und Herren,” wandte ich mich direkt an die versammelte Wissens-Elite der Republik. “Die Bund-Länder-Runde hat sich darauf verständigt, ihre Bedenken in vollem Umfang aufzugreifen und für einen Zeitraum von mindestens fünf Tagen die Bundesrepublik vollständig herunterzufahren. Damit dies auch wirklich geschieht und damit die Menschen die Maßnahme akzeptieren, soll die Kampagne unter dem Titel “Deutschland schläft sich gesund” Anreize entwickeln, während dieser Zeit daheim zu bleiben und keine Kontakte außerhalb der Familie oder Wohngemeinschaft zu haben.” Hier stoppte ich erst einmal, um die Reaktionen aufzufangen.
“Das müssen Sie uns näher erklären,” “Was soll das, das wird nicht angenommen werden,” “... und was machen Handel und Industrie?”, “ … die Schulen können wir nicht wieder einfach so runterfahren …", “... endlich mal eine gute Idee …" Die Stimmen der Experten kamen bruchstückhaft und zerrissen an. “Halt, meine Damen und Herren, so werden wir keine Ergebnisse erhalten. Ich möchte Sie bitten, den Vorschlag der Runde ernst zu nehmen und mir möglichst Vorschläge zu unterbreiten, wie wir ihn umsetzen können.”
Und wieder hatte ich Glück. Mit dieser Vorgabe brachte ich die Runde davon ab, die Entscheidung zu kritisieren und führte sie dahin, Vorschläge zu unterbreiten. Die kamen dann auch, teilweise mit Vorbehalten zur Entscheidung, teilweise aber auch begeistert von einem längeren totalen Lockdown.
Und so hatten wir so gegen 5:30 Uhr ein umfangreiches Konzept erarbeitet, das ich über Frau Rose an die Stabsstelle im Kanzleramt weiterleiten ließ. Mein Job war damit gemacht, meinte ich, als ich todmüde nach Hause wankte. Immerhin war bisher alles gut gelaufen und meine Methode, die beiden Lager – Expertenrunde hier und Bund-Länder-Runde dort – so zu kombinieren, dass jede Seite dachte, die andere hätte die Idee entwickelt, war aus meiner Sicht genial. Wie lange das noch gut gehen würde, wagte ich allerdings nicht vorherzusagen.
Und, um es gleich zu sagen: es ging noch länger gut. Jetzt lief die gut geölte Maschinerie der Staatskanzlei an und kam am Vormittag auf Höchststufen. Zunächst die Pressemitteilungen, dann, um 14:00 Uhr die Pressekonferenz. Die Kanzlerin machte es wirklich gut, sie startete mit der Notwendigkeit einen harten Lockdown durchzuführen, versüßte das Ganze aber damit, dass nach recht kurzer Zeit dann auch wieder mehr Normalität einkehren würde. Und setzte ganz zum Schluss noch das Sahnehäubchen auf, indem sie betonte, dass das Daheimbleiben durch ein umfangreiches “Good Feel Programm” ganz leicht sein würde.
Für das Good-Feel Programm war ich verantwortlich.
Natürlich war Herr Staatssekretär alles andere als entzückt von meinem Alleingang. Er hielt das Ganze für eine Schnapsidee, durch die wir in den Medien und der Öffentlichkeit zerrissen würden. “Und wir werden in den Umfragen abstürzen und das noch vor den Wahlen. Aber Sie Unglücksrabe mussten ja mit dieser Expertenrunde zusammenarbeiten. Mit etwas mehr Fingerspitzengefühl hätten Sie die Vorschläge so gefiltert, dass in der Runde alles nur noch weichgespült ankommt. Habe ich immer so gemacht!” Ja, und nur Frust und Ärger in der Bevölkerung erzielt dachte ich bei mir. Und dann musste ich fast lachen, schließlich hatte ich seinen Rat sogar befolgt, mehr noch, ich hatte die Ergebnisse nicht gefiltert, sondern gleich neu erfunden.
Der weitere Verlauf des Nachmittags und die ganzen folgenden Tage wurden durch die Vorbereitungen zum “Comfort-Lockdown” wie wir ihn nannten bestimmt. Zunächst beauftragte ich eine namhafte Marketing-Firma mit dem großen Rahmen. Und die machten wirklich gute Arbeit. Wir konnten Stefan Raab aus seiner Klausur locken und ihn für einen “Raab-gegen-alle-Marathon" gewinnen. Eine Rate- und Gamingshow mit zahlreichen großen Gewinnchancen. Allein dadurch würde schon ein Drittel der Republik ans TV gefesselt werden.
Die anderen Sender, öffentlich-rechtlich und privat, zogen auch mit und zauberten teils alte, teils neue Formate. Natürlich wurden auch die Möglichkeiten der Videokonferenzen ausgereizt. Von “Deutschland sucht den Super-Zoom" bis zur Wahl des romantischten Schlafzimmers gab es unzählige Wettbewerbe. Wenn das Internet standhielt, konnte man tagelang mit Video-Sessions verbringen.
Für das leibliche Wohl mussten die Bürger schon selbst sorgen, die großen Supermärkte waren 5 Tage vor dem Ereignis 24 Stunden durchgehend geöffnet. Zum Start gab es die obligatorische Unterversorgung mit Toilettenpapier, danach lief aber alles problemlos. Als besonderes Gimmick hatten wir uns noch die erwähnten “Care-Pakete” ausgedacht. Jeder Bürger über 18 bekam ein Paket mit Erzeugnissen des lokalen Handels. Bezahlt wurden sie aus dem Corona-Hilfsfonds der Regierung, gepackt von Freiwilligen, Studenten und Kurzarbeitern, die froh waren zusätzliche Einkünfte zu erhalten. Und verteilt wurden sie durch die Paketdienste und einer weiteren Armee von freiwilligen Helfern.
Für Kinder gab es im Vorfeld der Aktion Gutscheine, die bei den örtlichen Händlern online eingelöst werden konnten. Die Verteilung wurde ebenfalls durch die fleißigen Helfer vorgenommen.
Was ich nie gedacht hätte, passierte: es lief. Es lief gut, es lief mit Begeisterung und viel Enthusiasmus. Die Menschen hatten endlich ein Ziel, das ihnen den Ausweg aus der jetzigen Situation versprach. Dumm nur, dass der Ruhm für diese Idee nicht an mich fiel. Ich war ja nur der Überbringer der Botschaft der Experten gewesen. Und die Experten sonnten sich jetzt erst einmal in dem neuen Licht, das auf sie fiel. Keinem von ihnen fiel es ein, von sich aus zu sagen, dass die Idee gar nicht aus ihrem Kreis kam. Und wie sollten sie das auch wissen? Schließlich waren sie den ganzen Abend isoliert voneinander gewesen. Hätte ja tatsächlich eine Idee von einem der Experten sein können. Da es aber niemand von ihnen war, konnte auch keiner nach vorne treten und die Idee für sich beanspruchen. Also blieb es bei dem Eindruck einer Teamlösung, an die die Öffentlichkeit auch gerne glaubte.
Und dann war es endlich so weit: zu Pfingsten wurde der jetzt auf 7 Tage bestimmte Comfort-Lockdown gestartet. Davor gab es noch einen Run auf die Läden, dann war Stille. Sogar die Querdenker hielten still, im Vorfeld hatte ein gutes Marketing dafür gesorgt, dass alle “Ruhestörer” als Gefährder des Erfolgs gebrandmarkt wurden und sich keiner traute, öffentlich das Experiment zu kritisieren.
Der Start war gelungen, die Menschen blieben zu Hause, die Straßen waren, bis auf die absolut nötigen Fahrten und die Polizeistreifen zur Kontrolle der “Ruhepause” wie wir die Ausgangssperre positiv belegten, völlig menschenleer.
Am zweiten Tag begann dann ein Phänomen, dass ich – und auch alle meine Fachleute und Sozial- und Marketingexperten – so nicht vorausgesehen hatte. Auf einem kleinen Privatsender und natürlich auf diversen Kanälen im Netz trat ein Mensch auf, den sich Guru Ris Ris nannte. Dieser Mann machte einfache Meditationsübungen, unterbrochen von Gesang und kleinen Lebensweisheiten. Das aber mit solch einer Hingabe und Glaubwürdigkeit, dass schon am dritten Tag fast 30% der Bevölkerung von ihm gehört hatte und über 20% ihm auf den Medienkanälen folgte.
Und das steigerte sich noch in den nächsten Tagen. Am Schluss unserer Aktion “Comfort-Lockdown” hatte Ris Ris fast 20 Mio Follower auf den verschiedenen Kanälen und eine riesige Fan-Gemeinde, die seine Meditationen regelmäßig mitmachte.
Am vorletzten Tag rief er mich persönlich an: “Hallo Herr Grün, ich habe gehört, dass Sie einer der Initiatoren des Lockdowns gewesen sind? Ich glaube sogar, Sie waren der Ausschlaggebende!” Verlegen wollte ich erst abwehren, aber die Stimme kam so überzeugend, warmherzig und mitfühlend herüber, dass ich ihm nicht nur zustimmte, sondern die ganze Story erzählte. Ris Ris lachte leise und meinte: “Dann sind Sie mit Ihrem Bauchgefühl und eine gute Flasche Wein also für meinen Erfolg verantwortlich. Manchmal ist es wirklich bemerkenswert, wie das Schicksal arbeitet. Ich danke Ihnen ganz herzlich und gratuliere zu dem Erfolg!” Ja, ein Erfolg war “Deutschland schläft sich gesund!” schon jetzt. Die Inzidenzwerte waren rasant abgesackt, die Menschen waren zuversichtlich und die Wirtschaft erwartungsvoll auf das Anspringen der Konsumlaune.
Ich musste zugeben, dass die Meditationen von Ris Ris einen hohen Anteil daran hatten. Durch seine stimmungsvollen Sitzungen waren die Menschen achtsamer geworden, weniger auf ihre eigenen Bedürfnisse aus und sorgte sich mehr um das Wohl der Mitmenschen und der Gemeinschaft.
Ris Ris sprach weiter: “Ich habe übrigens der Bundesregierung vorgeschlagen, häufiger solche Meditationspausen einzulegen. Wir haben uns auf jeweils eine Woche im Halbjahr geeinigt.”
Jetzt war ich sprachlos, fast jedenfalls: “Wie, einfach so? Was wird die Wirtschaft dazu sagen, der Handel, das sind doch ungemeine große Einbußen?”
“Wir sind der Meinung, dass das neue Gefühl der Gemeinsamkeit, die Gewissheit in der Gemeinschaft etwas erreichen zu können und die gewonnene Gelassenheit im Umgang mit der Pandemie und vielleicht auch anderen Herausforderungen die Verluste in der Produktivität ausgleichen können. Es soll ja auch erst einmal nur für dieses Jahr versucht werden. Übrigens: vielleicht interessiert es Sie wie wir diesen Zeitraum nennen wollen?”
Naja, eigentlich dachte ich bei mir, dass da die gleiche Marketingfloskel herauskommen würde, wie immer. Und so fragte ich eher lustlos: “Ok, welchen tollen Claim haben sich die Kreativen denn da überlegt?” “Nicht die Kreativen, ich habe die Zeit als “Innocent Days” benannt. Ohne Sie wäre der Boden nie bereitet worden. Ohne Ihren Bauch und die Flasche Wein hätten wir nicht diese gigantische Chance zu gemeinsamen Meditationen bekommen. Und Sie sehen ja, die Menschen haben sich danach gesehnt.”
Ja, das alles ist jetzt mehr als 10 Jahre her und immer noch feiern wir die Innocent-Days. Sie haben sich inzwischen als Zeiten der Besinnung fest etabliert. Und ja, die Produktivität hat zunächst nachgelassen, ist dann aber angestiegen und heute besser als zuvor. Vielleicht haben wir die Gewichte auf mehr Nachhaltigkeit verlagert, wir überlegen tatsächlich oft, ob wir bestimmte Produkte wirklich brauchen und was wir uns und der Umwelt (wobei das ja wohl auf das Gleiche herauskommt) mit dem Konsum antun. Inzwischen sind die Innocent-Days auch in der EU eingeführte Praxis, seit 3 Jahren haben auch die USA unsere Idee übernommen. Die asiatischen Staaten waren deutlich schneller dabei, bei denen ist Meditation aber schon jahrhundertelang geübte Praxis.
Nur eins stört mich: wenn ich diese Geschichte erzähle, erhalte ich zunächst meist ungläubige und nach einiger Zeit mitleidige Blicke. Kurz – keiner glaubt mir, dass ich es war, der diese mächtige Bewegung in Gang gesetzt hat. Ich hoffe, Sie halten mich nicht auch für einen Spinner.