Veröffentlicht: 17.03.2021. Rubrik: Total Verrücktes
Nenn mich Henry
Sandro hielt sich seit zwei Stunden im Archiv auf und ordnete Akten. Was für eine langweilige Arbeit! Wenigstens war er alleine - der Chef hatte Wichtigeres zu tun, als den Azubi zu überwachen - und konnte ab und zu auf seinem Handy herumspielen. Wenn er eine Stunde mit den Akten verbracht hatte, genehmigte er sich zehn Minuten Handy-Zeit. Entweder spielte er ein Online-Spiel, schaute auf Facebook und Instagram vorbei oder schrieb SMS. Heute hatte sein alter Kumpel Roger Geburtstag. Er durfte auf keinen Fall vergessen, ihm zu gratulieren. Sandro suchte seine Nummer in den Kontakten, fand sie aber nicht. Hatte er sie aus Versehen gelöscht? Er runzelte die Stirn und versuchte, sich an die Nummer aus dem Gedächtnis zu erinnern. Es war nicht allzu schwierig. Ihm fiel ein, dass in Rogers Nummer sein eigenes Geburtsdatum enthalten war. Zufrieden tippte er die Nummer ein und begann dann mit dem Wort: „Herzlichen". Den Rest konnte das Handy alleine schreiben. Sandro fand es faszinierend, wie immer die Worte über der Tastatur erschienen, die man gerade haben wollte. Dann brauchte man nur noch auf das Wort zu drücken und das Handy fügte es in den Text ein. Meistens wusste das Handy mehr Worte als er selbst.
Doch das Handy schrieb nach „Herzlichen" nicht „Glückwunsch", sondern „Was?" Mit Fragezeichen.
Verblüfft starrte Sandro auf das Display.
„Wie, was?" sagte er halblaut vor sich hin und staunte nicht schlecht, als wie von Geisterhand getippt die Worte: „Ja, was?" - mit Fragezeichen - auf dem Handy erschienen, aber nicht wie üblich oben in der Zeile über der digitalen Tastatur, wo immer in drei Spalten die Vorschläge für Wörter angezeigt wurden, sondern quer über der Tastatur und nicht nur das, auch sehr groß und fettgedruckt, sodass die Buchstaben der Tastatur darunter kaum noch zu erkennen waren.
„Was ist denn jetzt los? Ich glaube, ich spinne!" Sandro starrte mit offenem Mund auf sein Handy.
„Da kann ich nicht widersprechen", las er.„Mach den Mund zu."
„Du willst mich wohl veräppeln, du blödes Handy!", sagte Sandro laut.
„Nenn mich Henry", die Buchstaben tanzten geradezu über die Tastatur. Jetzt schrieb das Handy nicht mehr in Druck-, sondern in Schönschrift, mit verschnörkelten Buchstaben. „Das träume ich doch", dachte Sandro.
„Neiiiin, du träumst nicht!"
Konnte das Ding auch noch Gedanken lesen?
„Ich bin kein blödes Ding!", schrieb das Handy. „Nenn mich Henry!"
„Warum?"
„Weil ich einen Namen haben will. Du verbringst soviel Zeit damit, auf mir herum zu spielen, da wirst du mich wohl Henry nennen können!" schrieb das Handy in atemberaubender Schnelligkeit.
„Na schön, Henry." Sandro sah ein, dass das nicht zuviel verlangt war.
„Kannst du jetzt die SMS an Roger schreiben?Er hat heute Geburtstag."
„Weil du es bist", schrieb das Handy. „Aber später. Wir unterhalten uns gerade so nett."
„Ich muss jetzt arbeiten", sagte Sandro energisch und steckte das Handy ein. „Schreib du die SMS!", befahl er vorher noch.
Eine Stunde später gab das Handy keinen Laut mehr von sich. Es klingelte nicht, es schrieb nichts und das Display blieb schwarz, obwohl es eingeschaltet war und der Akku noch lange nicht leer sein konnte. Sandro hatte es vor vier Stunden erst aufgeladen.
„Da kann man sich mal auf der Arbeit mit jemandem unterhalten und dann so was!", sagte er laut, pfefferte das Handy wütend in die Ecke und verließ das Archiv.