Veröffentlicht: 06.03.2021. Rubrik: Persönliches
Ein Tag innerer Leere
Sie ist wieder da. Nach langer langer Abwesenheit, scheint das klaffende Loch in mir wieder da zu sein, größer als je zuvor. Wie ich das bemerkte? Nun, ich verzichtete auf meine Morgenzigarette, hab keine Musik auf dem Weg zur Arbeit gehört, bisher trank ich nur eine Tasse Kaffee, welcher nach Mist schmeckte. Man wacht auf und auf einmal scheint alles, was einem das Leben ein bisschen angenehmer gemacht hat keinen persönlichen Wert mehr zu haben; und das dann komischerweise an einem Tag wo ich mehr als 3 ½ Stunden geschlafen habe.
Neben dem Verlust an der Freude einiger Sachen, kam Frust durch andere Sachen hinzu. Dinge die mich nie gestört haben, im Gegenteil. Ich bin, wie üblich, durch den Seiteneingang bei der Arbeit angekommen. Um in die Arbeitsstelle reinzukommen braucht man eine ID Karte. Nicht jeder hat so eine, ich schon. Man hält die Karte vor den Scanner und die Tür lässt sich aufziehen. Jemand anderes ist nicht kurze Zeit vor mir durch die Türgegangen, ich hab gesehen, wie er auf den Aufzug wartete. Mein rationales Denken lies mich zu ihm aufholen, doch auf halbem Weg polterte ein anderer gegen die nun wieder verschlossene Glastür, in der Hoffnung meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich schwöre bei Gott, noch nie in meinem Leben wollte ich einen anderen Menschen so sehr ignorieren wie diesen Kollegen, welcher leider keine eigene Karte hat um reinzukommen. Ich hätte sagen können ich hatte Kopfhörer in den Ohren, oder irgendwas anderes, es wäre so einfach gewesen. War es aber nicht-
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, kann schon ein einfacher Moment wie dieser, einen Menschen wortwörtlich auseinanderreißen. Ginge man nach dem Strukturmodell der Psyche, dann wollte mein „Es“ den Kollegen einfach ignorieren, während mein „Über-Ich“ als funktionierendes Mitglied der Gesellschaft ihm die Tür aufmachen wollte. Mein „Ich“ als Mediator sollte zwischen beiden stehen und eine konfliktlösende Entscheidung treffen. Wenn wir es uns bildlich vorstellen, sollten also „Es“ und „Über-Ich“ streiten, und „Ich“ kommt dazu und findet eine Lösung. Doch in jenem Augenblick war „Ich“ zwischen „Es“ und „Über-Ich“ welche, wie zwei Kinder um einen Stoffbären streitend, versuchten ihn zu übernehmen. Schlussendlich habe ich (natürlich) die Tür geöffnet und den Aufzug verpasst. Jedoch war das keine Entscheidung des „Ichs“ zu Gunsten vom „Über-Ich“. „Über-Ich“ hat einfach nur den wortwörtlichen Bärenanteil des „Ichs“ bekommen. Aber „Es“ hatte beim Kampf trotzdem ein Arm vom Bären abgerissen. Das zeigte sich auch. Ich habe zwar die Tür geöffnet, doch die Worte und Mimik der Freude und Dankbarkeit des Kollegen wurden nicht von einer höflichen Selbstverständlichkeit entgegengenommen. Nein, sie konnte nicht mal gespielt werden, weil das Konzept der höflichen Selbstverständlichkeit vom „Es“ abgetrennt wurde, welches diese als Trostpreis mit in seine Ecke nahm. Stattdessen trafen sie auf puren irrationalen Hass und Zorn, der zum Glück „nur“ durch meinen Blick gezeigt werden konnte, die FFP2-Maske hat den Rest verdeckt.
Am Arbeitsplatz angekommen, ich hatte mir schon die eine und vermutlich letzte Tasse Kaffee geholt, machte ich mich bereit meine Arbeit zu verrichten. Nur, dass ich durch den Laptop, den Tisch auf dem er stand und den Boden starrte in eine nicht fokussierte Leere. Und ohne dass ich es realisierte, war plötzlich schon eine Träne über meine Wange gelaufen. Ich hab mich an eine Szene aus einem Film erinnert. Dort fragte ein Polizeiinspektor einen Mann, nach einem längeren normalen Gespräch, ob es ihm gut ginge. Der Mann fragte in ganz beiläufigem Ton, warum er dies fragte, da er selbst nicht merkte, dass er weinte. Ich fand die Szene damals im Kino sehr kraftvoll, aber gleichzeitig unrealistisch. Ich hab oft genug im Leben Tränen vergossen, dass ich weiß, dass die Sicht zunächst wässrig wird, bevor die Tränen, begleitet und ausgelöst von einer Form von Reiz, sei es positiv oder negativ, die Wange dick runterlaufen. Und dennoch hab ich heute zum ersten Mal geweint, ohne dass ich es merkte.
*
Ich habe gerade aus reiner Gewohnheit die erste Zigarette des Tages geraucht. An anderen Tagen wäre es wahrscheinlich meine fünfte oder sechste gewesen und ich muss sagen: Nicht mal meine allererste Zigarette die ich damals vor vielen Jahren geraucht habe war so schrecklich wie diese eine, die ich nicht mal aufrauchen konnte. Als ich auf die Dachterrasse stieg, kam mir ein Kollege entgegen, den ich vor einer Woche kennengelernt habe. Zu der Zeit haben wir gemeinsam geraucht und uns über unsere Vergangenheit unterhalten. Ich weiß noch, dass er eine Schauspielerausbildung hinter sich hatte und zurzeit Sprachtherapie studierte. War ein lustiges längeres Gespräch.
Er grüßte mich heute mit einem Lächeln, welches ich unter meiner FFP2-Maske nicht erwiderte.
Das Leben ist eine Bühne und wir spielen unsere Rollen. Eigentlich bin ich sehr gut darin meine Rollen zu spielen. Doch heute scheint sich mein schauspielerisches Talent nur für Hörspiele zu eignen. Denn obwohl meine Stimme freundlich, offen enthusiastisch die Zeilen sprach, die ich sagen musste:
„Moin, alles Fit?“
-
i„Ja, muss ja, ne?“ *leichtes Lachen*“
, war meine Mimik nicht vorhanden. Zum Glück wird das mithilfe von Atemschutzmasken heutzutage gern übersehen. Als einziger auf der Dachterrasse musste ich zum Glück mich nicht anstrengen ein anderes Gesicht aufzusetzen. Später musste ich feststellen, dass das sowieso vergebene Mühe wäre. Ich setzte mich also auf meine Lieblingsbank, welche heute nichts weiter als eine kalte unbequeme Sitzfläche ist, und nahm den ersten Zug des Tages. Es schmeckte scheußlich und zum ersten Mal in meinem Leben war ich kurz davor von Zigaretten zu husten. Der zweite Zug war besser, aber guter Mist ist immer noch Mist. An anderen Tagen rede ich mit anderen Leuten und wenn keiner mit mir draußen ist, zücke ich mein Handy und scrolle durch die Nachrichten. Doch heute fand ich mehr Interesse daran der Stille zu lauschen. Vielleicht weil sie das symbolisierte, was in mir vorging. Nichts. Und obwohl ich eigentlich versuche, die Leere in mir zu verscheuchen, wurde mein Blick mit jedem Hämmern, welches im 30 Sekunden Takt von der Baustelle nebenan ertönte, böser, mich fragend, warum man versucht, die Stille krampfhaft zu vertreiben.
*
Eine Kollegin ging an meinem Büro vorbei. Alles so leer heute, meinte sie. Die Ironie ließ mich kurz auf kichern. In der Tat. Alles leer heute.
Sie wollte auf die Dachterrasse, eine rauchen, fragte ob ich mitkomme. Wer weiß ob meine zweite Zigarette des Tages besser wäre, aber ich hab abgelehnt. Bisher konnte meine Tonlage mein Schauspiel noch retten, doch am Arbeitsplatz trage ich keine FFP2-Maske. Während unser Smalltalk voranging stoppte sie.
„Alles okay bei dir?“
Zum Glück ist meine Stimme überzeugender als meine Mimik.
„Alles super, nur ein bisschen müde.“
Ironisch, vielleicht sagt man bei innerer Leere immer das Gegenteil.
*