Veröffentlicht: 04.02.2021. Rubrik: Persönliches
Die neue Aufgabe
Es ist ein kalter Wintertag im Jahre 2021 und die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel.
„Eigentlich könnte es ein schöner Tag werden“, denkt Louisa, „ aber was heißt „schön“ in diesen schwierigen Zeiten mitten in der Pandemie?“
Plötzlich rinnen ihr Tränen übers Gesicht und ein grauer Schleier voller Traurigkeit und Leere verhüllt ihre Sinne.
Trübsinnig grübelt Louisa weiter: „ Warum bin ich eigentlich heute aufgestanden? Was bringt wohl dieser Tag? Genauso viel an Leere und Trostlosigkeit wie die vergangenen Tage?“
Seit kurzem befindet sich Louisa in einer „neuen Lebensphase“, gegen die sie sich bisher verzweifelt gewehrt hatte: den Ruhestand!
Sie ist nicht bereit, dieses „andere Leben“ anzunehmen und ihre neu gewonnenen Freiheiten und Annehmlichkeiten zu genießen. Sie vermisst ihren über alles geliebten Beruf, die Kollegen und vor allem die persönliche Bestätigung und Herausforderung. Zeit ihres Lebens war für sie immer nur Arbeit, Leistung und Anerkennung wichtig. Selten konnte sie die angenehmen Seiten des Lebens genießen. Und nun hat sie das, was ihr so viel bedeutete, durch diesen „Ruhestand“ verloren!
Seit Wochen sitzt Louisa alleine zuhause und kommt sich dabei vollkommen überflüssig vor: ohne sinnvolle Aufgabe, ohne neue Perspektive, ohne das Gefühl, sich an irgendetwas erfreuen zu können – und dann noch die Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie, die ihr jeglichen Lebensmut raubt.
Das plötzliche Surren des Handys reißt Louisa aus ihren traurigen Gedanken: ach ja, es ist wohl wieder wie jeden Tag - ein paar neue Nachrichten, die sie zunächst mit wenig Interesse liest- außer der Nachricht ihrer Tochter, die sie auf einmal sehr bestürzt macht.
„ Das hat mir heute gerade noch gefehlt“ , hadert Louisa und schon ist sie wieder mitten drin in ihrer Rolle als Mutter. Es wird ihr wieder einmal bewusst, welch wichtige Aufgabe sie bis zum heutigen Tag zu bewältigen hat.
„Das ist eine oft nervenaufreibende und belastende Aufgabe, denn als Mutter hat man ja keine andere Wahl, als für die Sorgen und Probleme der Kinder immer ansprechbar sein zu müssen“, denkt Louisa.
Wie immer steht Louisa auch heute wieder ihrer erwachsenen Tochter mit gutgemeinten Ratschlägen und intensiven Gesprächen zur Seite und freut sich darüber, wenn sie ihr bei ihrem Problem wieder einmal helfen konnte.
Plötzlich fällt es Louisa wie Schuppen von den Augen: diese Aufgabe, die sie bisher nur als eine Verpflichtung in ihrer Rolle als Mutter gesehen hat, ruft bei ihr nun ein Gefühl der Zufriedenheit hervor.
Ist es nicht wunderschön und beglückend, das Gefühl zu haben, einem anderen Menschen helfen zu können, indem man ihm zuhört und ihn mit seinen Sorgen und Problemen nicht alleine lässt?
Ist es nicht aufbauend und motivierend, mit Empathie und Einfühlungsvermögen Menschen auf ihrem Weg zu begleiten?
Ist es nicht eine tiefgreifende Erfahrung, zu erkennen, dass man andere Menschen mit Zuwendung und Verständnis glücklich macht und sie damit in vielen Lebenssituationen unterstützt?
Doch – das ist eine erfüllende Aufgabe - gerade auch in Krisenzeiten, in denen viele Menschen immer mehr Zuspruch und Hilfe benötigen.
Durch diese neu gewonnene Erkenntnis weicht bei Louisa das Gefühl der Leere und Nutzlosigkeit und sie fühlt sich auf einmal voller Mut und Tatendrang für ihr „neues Leben“, in dem sie nun endlich ihren Platz und „ ihre Aufgabe“ gefunden hat.
„ Nun ist es ja doch noch ein schöner Tag geworden“, überlegt Louisa und Tränen der Freude laufen über ihr Gesicht.