Veröffentlicht: 22.02.2018. Rubrik: Unsortiert
Die Stellenanzeige
„Guten Tag, mein Name ist Sandra Rosenthal. Ich habe ein Vorstellungsgespräch bei Herrn Schmidt?“ Ihre Stimme ging am Satzende nach oben, als hätte sie eine Frage gestellt. Das passierte ihr immer, wenn sie nervös wurde. Und sie war nervös! Dies war das erste Vorstellungsgespräch seit 10 Jahren und vor allem das erste, seit sie vor einem Jahr ihre Anstellung als Sekretärin in der Kanzlei Blum, Schulz & Hubert verloren hatte. Sie atmete tief durch. Sie durfte sich ihre Nervosität auf keinen Fall anmerken lassen. Die Vorzimmerdame war Anfang 20, blond und sehr hübsch. Zu hübsch, dachte Sandra, doch schämte sich sofort für diesen Gedanken. Die Frau ist bestimmt nicht nur eingestellt worden, weil sie hübsch war. „Setzen Sie sich bitte. Herr Schmidt ist gleich bei Ihnen.“, sagte die Sekretärin freundlich. „Dankeschön.“ Sandra ging in den Wartebereich, der direkt neben dem Empfangstresen lag und setzte sich auf einen der billig aussehenden schwarzen Plastikstühle. An einer der Wände stand ein kleiner Tisch, auf dem ordentlich die aktuellen Tageszeitungen drapiert waren. Sie betrachtete die Wände. Schwarzweißfotografien von einem Zirkus. Ein Elefant. Eine Seiltänzerin. Ein Kind auf den Schultern eines alten Mannes, das sich gerade Zuckerwatte in den Mund steckte. Sandra gefielen die Bilder, sie beruhigten sie etwas.
„Frau Rosenthal? Sie können jetzt zu Herrn Schmidt ins Büro“ Sandra erhob sich, strich ihren Rock glatt und atmete noch einmal tief durch. Sie ging vorbei am Empfangstresen, lächelte der Sekretärin zu und steuerte die einzige Tür an, die sich im Raum befand. Auf einem kleinen Messingschild neben der Tür stand „Georg Schmidt - *12.12.1933 - +25.11.2016“ Sie klopfte. Moment mal, dachte sie, das Schild hatte sie nur am Rande wahrgenommen. Wieso sah das Türschild aus wie ein Grabstein und wieso besagte es, dass Herr Schmidt heute vor einem Jahr gestorben ist? Sie war völlig perplex. „Herein“, krächzte eine heisere Stimme von drinnen. Sandra schluckte. Vielleicht war es nur ein Scherz, dachte sie. Ein ziemlich makabrer Scherz, aber sie würde es gar nicht erwähnen und wenn er darauf zu sprechen käme, würde sie einfach lachen. Sie trat ein. Das Büro von Herrn Schmidt war klein und düster und mit großen dunklen Möbeln zugestellt. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Schreibtisch, der alt und verkramt aussah, dahinter saß Herr Schmidt. Er hatte sich in seinem Lehnstuhl zum Fenster gedreht, sodass er mit dem Rücken zu ihr saß, doch er sah nicht hinaus auf die Straße. Die schweren dunkelgrünen Vorhänge waren zugezogen. Das Licht ging von einer Kerze auf dem Schreibtisch aus. Sandra räusperte sich. Herr Schmidt schwieg. Sie schloss die Tür hinter sich und sagte so selbstbewusst wie sie konnte: „Guten Tag, mein Name ist Sandra Rosenthal. Ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeladen haben.“ Sie lächelte nervös. Noch immer kam keine Antwort von dem Mann, der ihr immer noch den Rücken zugedreht hatte. „Herr Schmidt?“ Er reagierte nicht. Sandra beschlich eine schlimme Ahnung. War er womöglich tot? „Herr Schmidt?“, sie lief auf den Schreibtisch zu. „Kommen Sie nicht näher!“, rief eine eisige Stimme heiser, sie kam von dem Stuhl hinter dem Schreibtisch. „Setzen Sie sich.“ Sandra setzte sich. Langsam bekam sie Angst. Wieder Schweigen. Auf dem Schreibtisch sah Sandra bergeweise Papierstapel, es war unmöglich, in diesem Chaos irgendetwas zu finden. An den Wänden hingen vergilbte Urkunden und Zeugnisse schief in ihren Rahmen. Es roch äußerst unangenehm, beinahe verdorben. „Möchten Sie etwas trinken?“, fragte der alte Mann und Sandra lehnte dankend ab. Sie wollte das Ganze nur noch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Herr Schmidt hatte sich immer noch nicht umgedreht. „Wie sind Sie auf meine Anzeige gestoßen?“, fragte er ohne weiteres Drumherum. Sandra erinnerte sich.
Es war schon sehr merkwürdig, wie sie an diese Anzeige gelangt ist. Seit einem Jahr war sie nun schon arbeitslos und nachdem sie Hunderte von Bewerbungen geschrieben und Hunderte von Absagen erhalten hatte ohne auch nur ein einziges Mal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden zu sein, hatte sie es so gut wie aufgegeben. Die Jobsuche, das ganze Leben eigentlich. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, morgens in der Zeitung statt den Stellengesuchen die Todesanzeigen durchzugehen und mit jedem weiteren Tag, der so verstrich, merkte sie, dass sie die Toten, von denen sie las, immer mehr beneidete. Zuerst nur, weil sie Verwandte oder Freunde hatten, die sich um eine meistens sehr liebevolle Anzeige für den Verstorbenen bemühten, in der sie schilderten, wie sehr der Tote geliebt und vermisst wurde und was er in seinem Leben alles erreicht hatte. Sandra wusste, dass es niemanden gab, der so etwas für sie tun würde, sollte sie jetzt sterben. Nach einer Weile beneidete sie die Toten, weil sie tot waren. Sie ruhten in Frieden, sie hatten keine Probleme mehr, weder Geldprobleme noch Beziehungsprobleme noch Probleme mit dem Amt oder dem Vermieter. Sie malte sich aus, wie auch sie in Frieden ruhen würde, wie vielleicht doch irgendjemand eine kleine, liebevolle Todesanzeige für sie verfassen würde, wie ihre Beerdigung aussehen würde. Es beruhigte sie, täglich in den Todesanzeigen zu blättern, denn sie hatte das Gefühl, es brachte sie ihrem eigenen Tode ganz langsam aber sicher näher. Eines Tages, eines besonders grauen, hoffnungslosen Tages Mitte November schließlich entdeckte sie zwischen diesen ganzen Todesanzeigen tatsächlich die Stellenausschreibung von Herrn Georg Schmidt. Sie war kurz und knapp formuliert, eine Sekretärin mit Erfahrung werde gesucht, kein Wort über Dinge wie Arbeitszeiten und Gehalt, doch Sandra sah es als Zeichen, dass sie auf diese Anzeige gestoßen war. Sie bewarb sich postalisch unter der angegebenen Adresse und wurde sofort zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Die Sekretärin vom Empfangstresen hatte sie angerufen. Sandra wusste, dass sie unverschämtes Glück hatte. Für sie war klar, dass sie nur deshalb eingeladen wurde, weil sie die Einzige war, die sich auf die Stellenausschreibung beworben hatte. Denn ganz offensichtlich war sie versehentlich bei den Todes- statt bei den Stellenanzeigen gelandet. Doch das würde sie jetzt natürlich mit keinem Wort erwähnen. Sie war inzwischen in einem Stadium angekommen, in dem es ihr egal war, ob sie einen Job bekam, weil sie die beste oder weil sie die einzige Bewerberin war. Also sagte sie lapidar: „Eine Bekannte hat Ihre Stellenanzeige in der Zeitung entdeckt und mir Ihre Adresse gegeben.“
Der Mann nickte, glaubte sie zumindest, denn sein Stuhl wippte leicht vor und zurück. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht. „Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“, fragte er. Sie war wieder verwirrt. War es das etwa schon von seiner Seite aus? Er hatte sie quasi nichts gefragt und sie hatte auch nichts über sich erzählt. Er bemerkte ihr Zögern und seufzte. „Frau Rosenthal“, setzte er an, „Es wirkt auf mich, als wüssten Sie nicht, auf was für eine Stelle Sie sich eigentlich beworben haben, stimmt das? Hat Ihnen Ihre sogenannte Freundin das etwa nicht erzählt?“ Er lachte finster. Sandra fühlte sich ertappt. Wie hatte er die Lüge mit ihrer Freundin durchschauen können? „Nun ja, aus Ihrer Stellenanzeige ging das auch nicht so eindeutig hervor. Ich habe wirklich versucht, etwas über Ihr Unternehmen herauszufinden, aber laut Google existiert es gar nicht. Es sind keine Informationen über Sie zu finden. Nichts!“ Er lachte erneut auf, bitter. „Google! Ich bitte Sie! Was glauben Sie, warum ich meine Anzeige nicht ins Internet, sondern in die Zeitung gesetzt habe?“ Er wartete auf eine Antwort. Sandra versuchte es noch einmal. „Herr Schmidt, ich weiß nicht, was für ein Unternehmen Sie leiten, das stimmt. Aber ich bin eine gute Sekretärin, ich habe 9 Jahre lang Erfahrung bei einer namhaften Anwaltskanzlei sammeln können. Aus betrieblichen Gründen wurde mir leider gekündigt, aber ich bin noch jung, ich bin gesund, …“ – „Und warum treiben Sie sich dann in den Todesanzeigen rum, hä?“, unterbrach er sie.
Sie schluckte. „Wie gesagt, eine Freundin hat mir…“ –„Papperlapapp!“, rief er. „Ich habe doch eindeutig in meiner Anzeige geschrieben: nur Leute MIT ERFAHRUNG“ Sandra stand auf. Sie hatte genug. Und der Kerl hatte sich immer noch nicht zu ihr umgedreht. „Ich habe Erfahrung! 9 verdammte Jahre lang!“, rief sie dem Stuhlrücken entgegen. „Ja“, krächzte er, „aber Sie haben bestimmt noch nie für einen Toten gearbeitet.“ Mit diesen Worten drehte er sich um. Rückwärts taumelte sie Richtung Tür. Sie wollte schreien, ihr Mund stand offen, aber brachte kein Laut heraus. Sie blickte direkt in das Gesicht einer Leiche. Seine Haut war weiß, schneeweiß und seine wenigen grauen Haare standen zu allen Seiten. Völlig steif saß er in seinem Stuhl, die Augen starrten leer ins Nichts. Aber er bewegte sich doch! Er hatte doch mit ihr geredet! „Was soll das?“, flüsterte sie, „Was ist hier los?“ Er lächelte, seine schmalen Lippen verzogen sich ganz leicht, sonst blieb alles unbewegt. „Buh!“ Er lachte, sein Mund öffnete sich dabei noch ein kleines bisschen mehr. Seine reglosen Augen waren direkt auf sie gerichtet und langsam hob er einen der versteiften Arme um mit seinem Zeigefinger auf sie zu zeigen. Sandra lief weiter rückwärts ohne den Blick auch nur eine Sekunde lang von ihm abwenden zu können. Sein Anblick würde sich auf ewig in ihr Gedächtnis brennen. Sie erreichte die Tür. „Herzlichen Glückwunsch“, rief er lachend, „Sie haben den Job.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, danke. Schönen Tag noch.“ Sie öffnete die Tür, schlüpfte hindurch und verschloss sie hinter sich. Und blickte direkt in das Gesicht der Sekretärin. Diese sah sie besorgt an. „Alles in Ordnung, Frau Rosenthal?“ Sandra, kreidebleich wie sie war, schüttelte den Kopf. Die Sekretärin lächelte: „Ich habe gehört, Sie kriegen den Job? Glückwunsch. Wollen wir gleich den Vertrag durchgehen?“ Sandra starrte sie einen Moment lang unschlüssig an. „Sind Sie… auch tot?“, fragte sie die Sekretärin und lachte nervös. Die Sekretärin schüttelte den Kopf. „Ich arbeite hier nur übergangsweise, ich will eigentlich Jura studieren. Jetzt habe ich endlich einen Studienplatz, deshalb suche ich eine Nachfolgerin für mich.“ Sandra kam ein Gedanke. „Wie lange suchen Sie schon?“, fragte sie. Die Sekretärin überlegte. „Ziemlich genau ein Jahr. Und Sie sind die Erste, die sich beworben hat. Verrückt, oder?“ Sandra nickte. Dann sagte sie, sie könne den Job leider nicht annehmen, und verabschiedete sich höflich von der Sekretärin, die ihr fröhlich hinterher winkte. Sie öffnete die Tür zum Hausflur, lief die zwei Etagen in dem alten muffigen Treppenhaus nach unten und trat auf die Straße. Frische Luft schlug ihr entgegen. Sie atmete noch einmal tief ein und aus. Dann machte sie sich auf den Weg nach Hause, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.