geschrieben 2020 von snowwhite.
Veröffentlicht: 22.12.2020. Rubrik: Kinder und Jugend
Vom krummen Weihnachtsbaum
Es nieselt, als Clara und Papa ihre Oma Elli zum Adventskaffee besuchen. Nein, Clara trinkt keinen Kaffee, das sagt man nur so - es gibt auch Plätzchen und Kakao. Sie ist gerne bei Oma Elli, nicht nur wegen der Leckereien. Oma Elli kann wunderbare Geschichten erzählen, sie schimpft nie und tröstet Clara, wenn ihr mal eine Eiskugel auf das Kleidchen rutscht oder sie sich das Knie aufgeschlagen hat.
Am Vormittag hat Clara mit Max und Papa den Weihnachtsbaum geschmückt. Papa hat den Baum in den Ständer gestellt und Mama hat gerufen “Mehr rechts! - Nein, die andere Seite! - Noch ein Stück nach hinten!”, bevor sie wieder in die Küche verschwand, aus der es kurze Zeit später süßlich duftete. Dann standen Max und Clara mit dem Lametta vor dem Baum - Clara liebt Lametta, und Max macht ihr immer alles nach - aber Papa sagte “Zuerst die Lichterkette, dann die Äpfel, dann die Kugeln und zum Schluss das Lametta!” Man muss ganz schön geduldig sein an Weihnachten, und Geduld fällt Clara schwer. Schließlich aber war das ganze Lametta verteilt und Papa schaltete den Baum ein, nur zur Probe, wie er immer sagt, aber mit glänzenden Augen und einem Lächeln. So ein schöner Baum! Gerade und hoch gewachsen, bis kurz unter die Decke, an der Spitze der große Strohstern, breite, nach Harz duftende Äste mit weichen Nadeln, das im Licht der Kerzen glitzernde Lametta - Clara und Max konnten sich nicht satt sehen.
Nach dem Mittagessen musste Max ins Bettchen für den Mittagsschlaf. Clara ist ja schon groß, muss keinen Mittagsschlaf mehr machen, sondern startete mit Papa auf den Weg zu Oma Elli. Das trübe Nieselwetter machte Clara nichts aus. Durch die Fenster der Häuser strahlten schon einige Weihnachtsbäume, und Clara und Papa zählten sie, bis sie bei Oma Elli ankamen. “Stell dir vor, wir haben siebenundzwanzig Bäume gesehen!” “Das ist ja toll! Dann mache ich mal meinen an, dann hast Du einen mehr.” “Achtundzwanzig!” ruft Clara, als die Lichter angehen. Omas Baum ist auch schön geschmückt, aber er ist viel kleiner und krumm.
Als sie bei Kaffee, Kakao und Plätzchen am Tisch sitzen fragt Clara: “Oma, warum ist denn dein Baum so klein und krumm? Unserer ist ganz groß!” Oma Elli antwortet: “Er hat mir so gefallen, wie er da so in der Ecke des Marktes stand. Die Leute haben ihn gar nicht beachtet, und er hat mir auch irgendwie leid getan. Ich bin zu ihm hingegangen und habe gesagt; ‘Du bist ein schöner Weihnachtsbaum und auch gar nicht so groß. Möchtest du mit in meine kleine Wohnung kommen?’” “Du sprichst mit deinem Weihnachtsbaum?” fragt Clara ungläubig und mit großen Augen. “Hat dir der Baum auch geantwortet?” “Natürlich, alle meine Weihnachtsbäume sprechen mit mir, seit ich gerade so alt war wie Du jetzt - sieben Jahre. Soll ich dir davon eine Geschichte erzählen?” Clara nickt sofort, stopft sich noch ein Plätzchen in den Mund und macht es sich auf dem Sofa bequem.
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Als ich noch ein Kind war, war die Welt noch anders als heute, und auch Weihnachten war anders. Meist war es bitterkalt und verschneit. Wir wohnten damals noch draußen im Dorf neben dem Wald. Wir hatten Hühner und Kaninchen, einen großen Gemüsegarten, ein Klohäuschen hinter dem Haus und einen Kachelofen in der guten Stube.
In der Adventszeit wurde gefastet, also kein Fleisch gegessen, stattdessen gab es häufig Suppe und Früchtebrot. Immer am Samstag vor dem vierten Advent gingen die Leute gemeinsam in den Wald, Bäume schlagen. Da gab es keinen Glühweinstand und keine Musik vom CD-Spieler. In einer langen Reihe zogen wir los. Die großen Kinder durften die Fackeln für den Rückweg tragen, die Männer hatten die Äxte und Sägen und die Frauen die kleineren Kinder an der Hand. Wir sangen gemeinsam die alten Lieder, mir hat damals besonders “Maria durch ein Dornwald ging” gefallen, und es gefällt mir heute noch.
Auch in dem Jahr, als ich sieben Jahre alt geworden war, standen wir alsbald auf der Schlaglichtung und meine Brüder und ich begannen mit der Suche nach einem schönen Baum, so wie die anderen Familien um uns herum. Das war ein Rennen, ein Rufen, ein Umhereilen! Jeder wollte den schönsten Baum zuerst entdecken! Wer einen Baum entdeckt hatte, stellte sich dort auf, bis die Eltern und die kleineren Kinder heran kamen und sich für einen der Bäume entschieden. Da ich mit sieben Jahren in die Volksschule aufgenommen worden war, durfte ich das erste mal Mitsuchen. Wie alle Kinder um mich herum begann ich zu suchen, aber ich war ein bisschen langsamer als sie. Immer, wenn ich einen schönen Baum sah, stand da bereits ein anderes Kind. So ging ich tiefer in den Wald. Die meisten Bäume hier waren bereits viel größer und ich sah mich um, wo denn ein schöner junger Weihnachtsbaum zu finden sei. Die Kirchturmuhr im Dorf schlug dreimal und kleine weiße Flöckchen begannen vom Himmel zu fallen. Da hörte ich ein Stimmchen: “Hallo, Elisabeth! Hier bin ich, zwischen den großen Tannen!” Ich schaute mich um, aber zwischen den hohen Tannen war niemand zu sehen. Ich bekam ein bisschen Angst und sagte mir, dass ich mich bestimmt verhört hatte. Die Flöckchen begannen zu Flocken zu werden und der Himmel verfärbte sich von hellgrau zu grau. Da! Wieder hörte ich das Stimmchen: “Suchst du nicht einen Weihnachtsbaum?” In der Richtung, aus der ich die Stimme vernahm, stand nur ein kleines Bäumchen, dürr und schief gewachsen, nicht gerade ein Prachtexemplar. Ich ging zu ihm hin und fragte ungläubig “Hast du mit mir gesprochen?” “Ja, natürlich. Ich weiß, ich bin nicht besonders schön wie die anderen Bäume. Ich stehe hier schon seit zehn Jahren, aber die großen Tannen nehmen mir all das Licht weg. Vielleicht, wenn du nicht einen schöneren Baum hast, kann ich dein Weihnachtsbaum sein?” Ich wusste zuerst nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte Mitleid mit dem Bäumchen und streichelte seine Nadeln und die kahlen Stellen am Stamm. Dann sagte ich “Ja, du sollst unser Weihnachtsbaum sein. Wir schmücken dich schön mit Strohsternen und extra viel Lametta, dann wirst du der schönste Baum weit und breit!” Ich hielt den Stamm fest, wie ich es gelernt hatte und schaute mich um. Da merkte ich, dass ich die anderen Leute nicht mehr hören konnte. Mittlerweile schneite es dicke Flocken aus dunkelgrauem Himmel. Ich dachte, dass meine Brüder vielleicht einen schöneren Weihnachtsbaum gefunden hätten und wollte schon zurücklaufen, aber der Neuschnee hatte meine Spuren längst bedeckt. Das Bäumchen schien meine Gedanken gelesen zu haben und sagte: “Du brauchst keine Angst zu haben, warte einfach hier bei mir, bis deine Familie kommt.” Ich antwortete: “Du brauchst keine Angst zu haben, ich warte einfach hier bei dir, bis meine Familie kommt.”
Wir mussten lange warten. Es war bereits stockdunkel, als ich die Stimmen meiner Brüder und Eltern hörte und kurz darauf den Schein der Fackeln durch die Tannen sehen konnte. “Elli! Elli” riefen sie, und ich schrie “Hier!”, bis mich meine Mutter mit Tränen in den Augen in die Arme schloss, zusammen mit meinen Brüdern und meinem Vater. “Wir sind gottsfroh, dass wir dich gefunden haben.” sagte er, “Nachdem wir gemerkt hatten, dass du verschwunden warst, suchten wir überall rund um die Lichtung. Die anderen Familien waren mit ihren Bäumen bereits zurückgegangen. Wir hatten solche Angst um dich! Gott sei Dank, dass wir dich zurückhaben - auch wenn wir jetzt ohne Baum Weihnachten feiern, ist dies doch ein größeres Geschenk!”
Ich sagte: “Aber Vater, wir haben doch einen Baum, hier! Er hat auf mich aufgepasst und ich auf ihn, so hatten wir beide keine Angst.” Keiner, auch nicht meine Brüder, hat mich oder meinen Baum ausgelacht. Alle waren nur still und froh.
Und so schlug mein Vater den Baum, er wurde zu Hause wunderbar geschmückt und es war der schönste Baum, an den ich mich erinnern kann.
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Als Clara die Geschichte gehört hat, sagt sie: “Papa, warum reden wir denn nicht mit unseren Weihnachtsbäumen?” Und Papa antwortet: “Vielleicht, weil Oma diese Geschichte uns erst jetzt erzählt hat? Nächstes Jahr kommst Du mit auf den Markt und fragst die Bäume, welcher zu uns mitkommen will, gut?” Und so ist es auch gekommen.