Veröffentlicht: 08.06.2020. Rubrik: Spannung
Die Flucht
Eines Morgens wachte ich auf. Es war ein wunderschöner Sommertag, die Vögel zwitscherten, die Sonne schien zum Fenster herein und alles schien wunderbar zu sein. Ich stand auf und blickte hinaus in unseren großen Garten hinter dem Haus. Er war fast so groß wie eine kleine Koppel und ging einen Hügel hinunter von dessen Fuß ein Sandweg zu einem riesigen See führte. Eine kleine Baumgruppe stand in der hinteren rechten Ecke des Gartens. Ich lächelte. Niemand außer mir kannte das Geheimnis um die kleine Gruppe von Bäumen. Nur ich wusste was sich in dem hohlen Baumstamm eines besonders dicken Baumes befand und ich war sehr stolz auf mein Geheimnis.
Plötzlich klopfte es an der Zimmertür. „Marisa, bist du wach?“, flüsterte meine kleine Schwester Mayra. Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war nicht so, dass ich meine Schwester nicht mochte. Zu meinem sechsten Geburtstag hatte ich mir sogar eine kleine Schwester gewünscht aber das bereute ich schon seit Jahren. Ich erinnerte mich zwar nicht mehr richtig an die Zeit als ich noch mit meinen Eltern alleine wohnte, doch es war auf jeden Fall einfacher gewesen. Ich hatte mein Geheimnis in dem alten Baum mit 7 Jahren entdeckt. Damals konnte ich noch nichts damit anfangen. Doch in den 6 Jahren hatte ich gelernt, damit umzugehen. Doch erst als Mayra begonnen hatte, mir nachzuspionieren und bemerkt hatte, dass ich irgendetwas verheimlichte, hatte ich den Ernst der Lage erkannt. Niemand, niemand durfte etwas erfahren. Schon gar nicht Mayra.
„Ja ich bin wach, das siehst du doch“, ich drehte mich um. Da stand sie, klein und dünn, in einem rosa-weiß gestreiften Nachtkleid, das lange goldene, lockige Haar zerzaust mit ihrem Teddy im Arm. Wir hatten eine gewisse Ähnlichkeit. Nur, dass ihre Augen riesig und dunkelblau waren und meine geradeso vor Hellblau strahlten. Meine Mutter sagte immer in meinen Augen sähe sie einen strahlenden Sommerhimmel mit keiner einzigen Wolke.
Mayra lächelte schüchtern. „Darf ich reinkommen?“. „Natürlich“, seufzte ich. Eigentlich hatte ich vorgehabt in den Garten zu gehen aber daraus wurde wohl vorläufig nichts.
Sie lief auf mich zu und schlang ihre Arme um meinen Bauch (sie reichte mir gerade mal bis kurz über den Bauchnabel was wegen unserer 7 Jahre Altersunterschied wohl auch ganz normal war). Erst jetzt bemerkte ich, dass ihre Hände eiskalt waren und sie zitterte.
„Was hast du denn?“, fragte ich besorgt. „Ich hatte einen Albtraum“, schluchzte sie plötzlich los. Sie bebte und schluchzte haltlos und ich streichelte ihr unbeholfen den Rücken. Dann, eine gefühlte halbe Stunde später als mein Nachthemd komplett nass war, hörte sie auf zu weinen und blickte ängstlich zu mir auf. „Was hast du denn geträumt?“, fragte ich sanft und hoffte, dass sie nicht gleich wieder in Tränen ausbrach. Sie schüttelte nur stumm den Kopf und lief zu meinem Bett. Dort kuschelte sie sich unter meine Decke und blickte blinzelnd gegen das helle Sonnenlicht zu mir auf. Ich stand immer noch am Fenster, das Nachthemd tränennass und schaute sie ratlos an. Für ihre 6 Jahre war Mayra eigentlich schon ziemlich weit entwickelt. Klar, sie spielte zwar noch mit ihrem Playmobil und sammelte Kuscheltiere, aber sie konnte eigentlich Träume von Wirklichkeit unterscheiden. Selbst bei gruseligen Filmen fürchtete sie sich nicht noch Wochen danach. Es musste schon etwas äußerst Schlimmes gewesen sein. „Möchtest du mir nicht erzählen was du geträumt hast?“ Sie schüttelte nur wieder stumm den Kopf und versteckte sich unter meiner Decke. Jetzt war ich verwirrt. Mayra war sonst immer mutig und ehrlich. Außerdem schämte sie sich, wenn sie sich irgendwie aus Angst kindisch benahm. Und jetzt versteckte sie sich unter meiner Decke?! Äußerst seltsam. Ich ging zu meinem Bett und setzte mich neben sie. Wenn sie nicht reden wollte, konnte ich sie nicht zwingen. Ich seufzte und streichelte ihr über den Kopf. Im Grunde hatte ich sie sehr lieb. Schließlich hatte ich sie mir quasi zum Geburtstag gewünscht.
„Mayra, Marisa!“, rief meine Mutter plötzlich von unten. „Es gibt Frühstück und wenn ihr nicht sofort kommt, isst unser Gast uns hier alles weg!“, sie lachte. Unser Gast? Wir hatten sehr selten Sonntagmorgens Gäste. Unsere Mutter machte sonntags immer ein riesiges Frühstücksbuffet (ihr Hobby war kochen und backen) und das war meistens ein Familienfrühstück ohne Gäste. „Zieh dich mal an“, sagte ich zu Mayra und lief selbst zu meinem Schrank um mir eine kurze Hose und eine Bluse rauszuholen. Es war schon relativ warm dafür, dass es erst Ende April war. Schnell zog ich mich um, machte mein Bett und lief dann die Treppe runter in die Küche. An der großen Tafel saß ein großer, schwarzhaariger Mann mit einem kurz rasierten Bart. Er lächelte mich an als er mich sah. Ich hatte ihn noch nie gesehen und mir war es ein Rätsel, warum er hier war aber aus Höflichkeit lächelte ich zurück.
„Setz dich doch Marisa“, sagte meine Mutter. „Wo bleibt Mayra?“ Ich setzte mich schräg gegenüber von dem Mann auf einen Stuhl da er meinen Stammplatz besetzt hatte und wollte gerade antworten als Mayra in die Küche gestürmt kam, die Augen neugierig auf den Mann gerichtet. Dann, ganz plötzlich blieb sie abrupt stehen, starrte den Fremden auf einmal voller Angst an, drehte dann auf dem Absatz um und lief zurück in ihr Zimmer. Wir hörten die Tür zuknallen. „Nanu!“, sagte der Mann. Er hatte eine tiefe ruhige Stimme die ein bisschen künstlich klang. Meine Mutter schüttelte ungläubig den Kopf und sagte: „Ich werde mal nach ihr sehen.“ Dann ging sie nach oben. Ich schielte zu dem fremden Mann herüber und merkte, dass er mich beobachtete. Wie unhöflich! Er versuchte nicht mal, es zu vertuschen! Ich beschloss, genauso unhöflich zu sein und fragte geradeheraus: „Und wer sind Sie?“ Er lächelte nicht. Sagte einfach nur mit seiner tiefen Stimme: „Mein Name ist Mathias Schmidt. Ich bin dein neuer Nachhilfelehrer in Mathematik.“ Das hätte ich mir ja denken können. Ich musste ein Augenrollen unterdrücken. Nur weil ich im letzten Halbjahreszeugnis eine 4 in Mathe gehabt hatte, hatte meine Mutter sofort begonnen einen Nachhilfelehrer zu suchen. Sie selbst hatte ihr Abitur mit einer 1,2 im Durchschnitt bestanden und machte sich schon bei den kleinsten Problemen in der Schule Sorgen.
ich war nicht wirklich schlecht in der Schule aber Mathe verstand ich einfach nicht. Es war zu kompliziert für mich. Andere sagten vielleicht, Mathe sei einfach logisch, man müsste gar nicht nachdenken aber bei mir war das irgendwie anders. Ich brauchte hundert Erklärungen bis ich die Aufgabe verstanden hatte und dann konnte ich die Aufgabe auch, aber das Wissen dann bei anderen Aufgaben einsetzen, das konnte ich nicht. Daran konnte man nichts ändern und dafür hatte ich meine Stärken in anderen Fächern. Doch meine Mutter wollte einfach nicht akzeptieren, dass Mathe bei mir sinnlos war und hatte nun endlich geschafft, mir einen Nachhilfelehrer zu besorgen.
„Oh, wie… nett“, stammelte ich und versuchte zu lächeln. „Ja, nicht wahr? Ich denke du wirst viel lernen“, seine Augen blitzten kurz auf und für den Bruchteil einer Sekunde schien etwas wie Gier darin aufzuleuchten. Im nächsten Augenblick war es aber wieder verschwunden. Wahrscheinlich hatte ich es mir bloß eingebildet. Wir schwiegen. Verdammt, wann kam Mama denn endlich wieder runter? Sie besaß die Fähigkeit, die Stimmung aufzulockern, egal wie ernst die Lage gerade war, sie sah immer positiv und ich bewunderte sie zutiefst dafür. Herr Schmidt räusperte sich und ich fürchtete schon, er würde anfangen über meinen Stand im Matheunterricht sprechen wollen doch offenbar hatte Mama ihn schon davon unterrichtet denn er fragte: „Ist deine Mutter alleinerziehend?“
Ich nagte an meiner Unterlippe. Mein Vater arbeitete auf einem Kreuzfahrtschiff als Maschinist und war nur alle drei Monate für einen Monat zuhause. Man konnte also schon sagen, dass meine Mutter alleinerziehend war, aber in den Monaten in denen Papa zuhause war, ja wiederum nicht. Ich beschloss, ihm einfach die Wahrheit zu sagen. Vielleicht würde er unseren Vater dann verantwortungslos finden, weil er einfach seine Kinder und seine Frau im Stich ließ aber er konnte meinetwegen denken was er wollte. Mein Vater war der netteste Mann, den ich kannte und er arbeitete hart, damit es uns gut ging. Und natürlich vermisste er uns auch aber er hatte nie etwas Anderes gelernt und seine Arbeit machte ihm auch Spaß. Im Moment befand er sich im karibischen Meer an der Küste Jamaikas und er schickte uns fast jeden Tag Bilder wo er, braungebrannt mit Sonnenbrille an der Reling stand, das funkelnde blaue Wasser im Hintergrund oder wo er vor einer riesigen Maschine stand und irgendetwas untersuchte. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass wir ihn nur alle drei Monate sahen und genoss daher die Zeit, die wir gemeinsam hatten. Mayra war da auch sehr tapfer. Sie weinte meistens nur, wenn es wieder Zeit für ihn war, zu gehen.
Nein, unser Vater ist alle drei Monate zuhause, da er auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet“, sagte ich und schaute ihn neugierig an doch er machte keine Anstalten, dies verantwortungslos zu finden. Er antwortete einfach: „Interessant, als was arbeitet er denn?“ „Maschinist“, sagte ich kurz, ich hatte jetzt keine Lust über unseren Vater zu sprechen. Das schien Herr Schmidt zu merken denn er wechselte schnell das Thema. „Deine Mutter macht wirklich sehr leckeres Essen! Ist sie Köchin oder, arbeitet sie überhaupt?“. Ich sah ihn aus schmalen Augen an. Warum wollte er so viel über uns wissen? War er einfach nur höflich und wollte über etwas sprechen oder steckte mehr dahinter? Als hätte er meine Gedanken erraten sagte er plötzlich: „Oh, ich will nicht unhöflich sein, ich interessiere mich nur für Familien meiner Schüler. Ich habe selbst keine Familie weißt du? Meine Eltern starben vor vielen Jahren und ich habe keine Geschwister, deshalb frage ich so viel. Klar, wenn mich das nichts angeht werde ich nicht weiter fragen.“ Von seiner plötzlichen Ehrlichkeit überrascht brachte ich kein Wort heraus. Eine Welle von Mitleid überkam mich. Keine Familie. Wie schrecklich! Plötzlich kam Mama in die Küche. Sie sah verwirrt aus und murmelte etwas von wegen, Mayra habe keinen Hunger und wollte in ihrem Zimmer bleiben. Ich begann zu essen, froh, dass ich nicht mehr alleine mit meinem neuen Nachhilfelehrer war.
Nach dem Frühstück ging ich hinaus in den Garten geradewegs auf die Baumgruppe zu. Mama und Mathias (wie wir ihn jetzt nennen sollten) hatten begonnen über meine nicht existierenden Mathefähigkeiten zu sprechen und nach 10 Minuten hatte ich es nicht mehr ausgehalten.
Als ich an dem dicken Baumstamm ankam überkam mich ein Gefühl von Glücklichkeit. Ich war die Einzige, die hiervon wusste. Ich ging um den Baum herum und fand die Öffnung. Ich steckte meinen Arm hinein. Schnell fand ich den Knopf und drückte ihn. Wie geölt glitt ein Stück des Baumstamms lautlos zur Seite und gab eine Öffnung die ungefähr so groß wie eine Tür war, frei. Ich ließ ein kleines, aufgeregtes Quietschen hören und musste einen Moment über mich selbst lachen. Ich hatte das schon hundertmal gemacht und trotzdem war ich jedes Mal aufgeregt. Ich schaute mich ein letztes Mal um und glitt dann durch die Öffnung. Es wurde stockdunkel. Der Durchgang hatte sich wieder verschlossen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf mein Ziel. Ich stellte mir das Bild meines Lieblingssteges unten am See vor und begann, mich zu drehen. Ich spürte wie ich den Baumstamm auf unerklärlicher Weise verließ, ihn hinter mir ließ und mich überkam ein Gefühl von Glücklichkeit, Schwindel und Bauchkribbeln. So wie wenn man unter Wasser eine Rolle mit geschlossenen Augen macht. Als ich die Augen öffnete, saß ich auf dem Steg und blinzelte in die helle Mittagssonne. Schnell zog ich meine Schuhe und Socken aus und hielt meine Füße ins Wasser. Es war angenehm kühl. Nicht, dass mir heiß gewesen wäre aber die kühle Nässe hatte etwas Erfrischendes an sich. Etwas Befreiendes. Für einen Moment vergaß ich alles. Mayras komisches Verhalten, meinen neuen Nachhilfelehrer, alles. Langsam stand ich auf, streckte die Arme aus und sprang mit Klamotten in das glitzernde Wasser. Ich tauchte unter und es war kälter als ich gedacht hatte. Das kühle Wasser prickelte auf meinen Armen und trieb kalte Schauer über meinen Rücken. Schnell schwamm ich wieder zur Oberfläche was wegen den schweren Klamotten gar nicht mal so einfach war. Doch ich war eine gute Schwimmerin. Letzten Sommer hatte ich Gold gemacht. Als ich auftauchte prustete ich und atmete die frische Frühlingsluft ein. Paddelnd und tretend hielt ich mich an der Oberfläche und schaute mich um. Die Hälfte des Sees war von einem kleinen Wald umgeben. Hinter dem sich Felder und der kleine Sandweg, der zu unserem Garten führte befanden. Die andere Hälfte war von Ackern und Hügeln umgeben, durch die sich eine einsame Landstraße schlängelte. Wir wohnten wirklich wunderschön gelegen. Hinter unserem Haus und hinter unserem Garten lag der See mitten in der Natur. Wenn man aber vor unser Haus ging, erblickte man eine kleine Dorfstraße, die durch das Dorf führte und schließlich an einer Hauptstraße endete die direkt in eine kleine Stadt führte. Man konnte mit dem Fahrrad locker in 20 Minuten die Stadt erreichen. Das fand ich gut, denn zu abgelegen zu wohnen ohne auch nur einem einzigen Supermarkt in der Nähe musste schon ziemlich ätzend sein.
Eilig, da mir nun doch ein bisschen kalt wurde, schwamm ich zurück zum Steg und kletterte wieder hoch. Vielleicht sollte ich wieder zurückgehen. Sonst würde ich mir nur eine Erkältung holen. Leider konnte ich nur den Ort von dem Baumstamm aus wechseln. Zurück zu ihm konnte ich nicht, da musste ich schon zu Fuß laufen. Aber bei so einem wunderbaren Frühlingstag tat ich das sehr gerne. Außerdem musste ja wohl jedes Gute auch einen Nachteil haben.
Als ich, immer noch triefend nass, das Ende des Sandweges erreichte und in den Garten schlenderte, musste ich wieder an Mayra denken. Warum hatte sie sich bloß so komisch verhalten? Sonst war sie immer sehr höflich. Ich beschloss, mit ihr zu reden.
Unbemerkt huschte ich über die Terrasse und durch die Hintertür. Ich brauchte keine dummen Fragen von Mama und Mathias warum ich denn so nass wäre und nahm deswegen den Gang, der nicht an der Küche vorbeiführte. Oben angekommen, zog ich schnellstens meine Sachen aus und hängte sie über die Fensterbank in die Sonne.
5 Minuten später, mit trockenen Sachen aber immer noch nassen Haaren, klopfte ich an Mayras Zimmertür. „Herein“, sagte sie und ich erschrak über den ängstlichen Klang ihrer Stimme. Vorsichtig öffnete ich die Tür, trat ein und schloss sie wieder hinter mir. Mayra blickte nicht einmal auf. Sie saß an ihrem Schreibtisch und zeichnete. Sie war unnormal gut im Zeichen und hatte schon eine ganze Sammlung von Portraits und Tierzeichnungen. Es waren nicht einfach Kreise, mit ein paar Strichen als Arme und Beine, es waren richtige Menschen und Tiere die nicht einer Zeichnung eines 6-jährigen Mädchens ähnelten.
Ich blickte ihr über die Schulter und erschrak. Sie hatte Mathias Schmidt gezeichnet jedoch lebendechter und realistischer denn je. Und was mich so erschrocken hatte, war der zornige Glanz in seinen Augen der ihn auf einmal perfekt in sein Bild passte. So als ob der Mathias unten in der Küche noch nicht ganz fertig wäre. So als ob noch ein winziges Detail fehlte um ich zu vervollständigen. Und das war diese Mischung aus Gier und Bösartigkeit in seinem Blick. Ich schauderte. „Warum mahlst du so etwas Gruseliges?“, fragte ich sie. Mayra drehte sich zu mir um und schaute mir direkt in meine Augen. Erneut musste ich schaudern. Nicht etwa aufgrund des Portraits, sondern wegen diesem Wissen in ihrem Blick das ich nicht hatte. Als ob sie etwas wüsste und verstünde, was ich mir nicht mal träumen lassen würde. „Weil er so ist. Er ist böse und gemein. Ich hab sein wahres Ich gemalt“, sagte sie und ihre Stimme klang fast ein bisschen feierlich. Wäre sie nicht so ernst gewesen und hätte sie mich nicht so angeblickt, hätte ich bestimmt gelacht und die Augen verdreht. Doch mir war gerade überhaupt nicht nach Lachen zumute stattdessen lief mir etwas Eiskaltes den Rücken runter. „Wie kommst du darauf“, fragte ich und versuchte mehr interessiert als ängstlich zu klingen.
Eine ganze Weile sagte sie nichts. Starrte mich nur mit großen Augen an. Dann, nach bestimmt 10 Minuten sagte sie endlich: „Du würdest mir eh nicht glauben. Oder du würdest sofort zu Mama laufen und es ihr erzählen.“ Ihre Worte trafen mich wie einen Schlag. Die Tatsache, dass sie so über mich dachte war traurig. Doch ich konnte sie auch irgendwie verstehen. Wir waren zwar Schwestern, aber ich hatte mich ihr nie wirklich nah gefühlt und nach ihren Worten zu schließen, sie wohl auch nicht. „Und wenn ich dir schwöre, dass ich es Mama nicht sagen werde?“, fragte ich. Sie war schließlich noch klein und ein Schwur war für sie von großer Bedeutung. Ich konnte ihn aber jederzeit brechen denn wenn irgendetwas darauf hinweisen würde, dass etwas mit Mayras Verstand nicht in Ordnung war, musste ich Mama etwas erzählen. Doch zu meiner Überraschung antwortete sie: „Ich bin doch nicht blöd Marisa! Du wirst sofort zu Mama rennen. Aber ich könnte es dir sagen, wenn du mir dein Geheimnis verrätst.“
Mir stockte der Atem. Ich hatte gewusst, dass sie mir manchmal nachspioniert war, wenn ich zwischen den Bäumen verschwunden war aber da sie das Thema nie angesprochen hatte, hatte ich gedacht, sie hätte das Alles nur als ein Spiel angesehen. Mayra sah mich herausfordernd an. „Ich.. ich, nah schön!“, stammelte ich. „Aber wehe, du erzählst es irgendjemandem!“ „Werde ich nicht, denn dann würdest du ja mein Geheimnis weitererzählen“, sagte sie ernst. Ich könnte sie einfach anlügen. Sagen, dass ich in der kleinen Baumgruppe nur heimlich ein Kaninchen hielt. Doch wollte ich das wirklich? Sie anlügen und dafür die Wahrheit erzählt bekommen? Ich würde wahrscheinlich mein Leben lang ein schlechtes Gewissen haben. Aber wie sollte ich es ihr erklären? Sollte ich sagen: „Naja, man kann halt in so einen Baumstamm reingehen und sich dann irgendwo hin teleportieren lassen. Nichts Wildes. Und jetzt erzähl du!“ Sie würde mir wohl kaum glauben. Ich musste es ihr zeigen damit sie mir glaubte. „Komm mit“, sagte ich seufzend und ging aus ihrem Zimmer auf den Flur und die Treppe runter. Sie folgte mir leise und aufgeregt. Wie hörten Stimmen aus der Küche und hielten inne. Redeten die beiden etwa immer noch?! Wir schlichen an die Tür um zu lauschen. Tatsächlich! Mama sagte gerade: „Das ist wirklich sehr, sehr nett von ihnen! Ich wette, in ein paar Monaten wird sie sich verbessert haben. Drei Mal pro Woche! Wirklich sehr aufmerksam. Und sind sie sicher, dass sie nicht mehr Lohn haben wollen? Ich meine, mit ihr ist es nicht gerade einfach!“, sie lachte. Frechheit! „Nein, nein das reicht völlig aus! Schließlich bring mir meine Arbeit auch Spaß“, sagte Mathias. „Was für ein Schleimer“, flüsterte Mayra. Ich blickte zu ihr herab. Ihre Augen waren starr auf die geschlossene Tür gerichtet und blitzen vor Zorn und Abneigung. So hatte ich sie noch nie erlebt. „Ich sehe, sie sind nicht umzustimmen“, sagte unsere Mutter munter. „Nein, in der Tat. Und ich denke es wird jetzt mal langsam Zeit“, wir hörten Stühle über den Boden rücken und Schritte. Schnell zog ich Mayra um die Ecke und zur Hintertür. Als wir draußen waren platzte es aus mir heraus: „Hast du das gehört? Drei Tage pro Woche habe ich zwei Stunden Mathe mit diesem… Mann“, endete ich ziemlich lahm. Ich wollte vor Mayra keine Schimpfwörter aussprechen. Das war kein gutes Vorbild. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging rasch durch den Garten. Sie folgte mir neugierig. „Du hast mein volles Mitleid“, sagte sie und legte mir tröstend eine Hand auf den Rücken (sie kam nicht bis zu meiner Schulter) und ich konnte es nicht lassen zu lachen. Doch Mayra wurde plötzlich ernst. „Nimm dich vor ihm in Acht!“, sagte sie. „Er ist gefährlich.“ Ich wusste zwar immer noch nicht, wie sie darauf kam aber ich nahm mir ihre Warnung zu Herzen. Ich hatte mir nie erklären können, wie das mit meinem Baumstamm funktionierte. Es war mit dem menschlichen Verstand einfach nicht zu erfassen. Wenn solche übernatürlichen Dinge existierten, warum sollte Mayra dann nicht recht haben können? Vielleicht hatte sie ja besondere Fähigkeiten. Das bezweifelte ich zwar stark aber wer wusste das schon?
Wir waren an den Bäumen angekommen und ich war aufgeregter denn je. Nun würde ich mein großes Geheimnis, das ich seit 6 Jahren hütete jemandem anvertrauen. Ich fand die Öffnung und der Stamm glitt lautlos zur Seite. Mayra schien so etwas in der Art erwartet zu haben denn sie sagte nichts. „Komm“, sagte ich, nahm sie am Arm und führte sie in den hohlen Baumstamm. Ich wusste nicht, ob man es auch zu zweit machen konnte aber es sprach eigentlich nichts dagegen. Platz genug war da auf jeden Fall. Das Schwere war wahrscheinlich, dass wir uns beide auf das gleiche Ziel konzentrieren mussten. „Du musst mir jetzt gut zuhören“, sagte ich. „Du musst dir jetzt mein Zimmer vorstellen so dass du es vor Augen hast okay? Gut, und jetzt musst du dich darauf konzentrieren, dass du dahin willst. Bündle… ähm bündle deinen Willen und… und ach konzentriere dich einfach darauf wie sehr du dahin willst, lasse das Gefühl durch deinen Körper strömen so, dass dein Wille ganz bei diesem Ort ist.“ In Wirklichkeit musste man sich gar nicht so doll Mühe geben aber diese Worte erinnerten mich an Harry Potter, mein Lieblingsbuch. Mr. Twycross der Apparierlehrer hatte solche ähnlichen Worte gesagt. Am liebsten hätte ich auch die goldene Dreierregel aufgesagt: Ziel, Wille und Bedacht aber das erschien mir dann doch ein bisschen übertrieben. Mayra schien sich komplett darauf zu konzentrieren und ich schärfte ihr noch einmal ein: „Du darfst an keinen anderen Ort denken alles klar? Dann könnte etwas schiefgehen.“ Ich dachte ans Zersplintern und bekam eine Gänsehaut. Dann schob ich den Gedanken beiseite und dachte selbst an mein Zimmer. Vorsichtig nahm ich Mayra an der Hand und drehte mich. Sie hatte verstanden und tat es selber. Und dann kam wieder dieses wunderbare Gefühl. Ich hörte Mayra auf quieken und musste lachen. Als wir die Augen öffneten standen wir auf meinem Teppich inmitten meines Zimmers. Mayras Mund stand offen. Ich atmete tief durch. Ich hatte es getan. Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Wir haben erstmal mein Zimmer genommen. Man muss nämlich zurück gehen weißt du? Man kann nicht einfach wieder zurückspringen.“ Sie nickte abwesend und schaute sich im Zimmer um so als wollte sie sicher gehen, dass wir uns nicht immer noch im Baumstamm befanden. Sie ging einige Schritte und schien völlig verblüfft. „Du hättest mir wahrscheinlich nicht geglaubt, wenn ich es dir einfach erzählt hätte oder?“, fragte ich lächelnd. Sie schüttelte stumm den Kopf und berührte meinen Nachttisch. „Das ist unglaublich“, sagte sie mit matter Stimme. Erneut lächelte ich. „Ja, das stimmt.“ Plötzlich kam unsere Mutter rein. „Du bist ja doch hier“, sagte sie erstaunt und blickte mich an. „Ich hab dich gesucht.“ „Sorry Mama. Was gibt´s denn?“ Sie schaute zwischen Mayra, die die Hand schnell von meinem Nachttisch gezogen hatte zu mir und runzelte die Stirn. „Ich wollte nur sagen, dass Mathias morgen um 16:30 Uhr kommt. Montags kommt er immer um diese Zeit. Wenn du mal was vorhast kannst du auch verschieben sagte er. Er hat Zeit. Meinetwegen geht das in Ordnung Hauptsache du hast 6 Stunden in der Woche. Dann kommt er noch mittwochs um 15.00 Uhr und freitags um 17.00 Uhr.“ Gut, sie hatte wenigstens Rücksicht auf meine Reit- und Klavierstunden genommen. „Und wann soll ich meine anderen Hausaufgaben machen?“, fragte ich leicht beleidigt. „Soll ich dann den ganzen Tag was für die Schule machen oder was?“ Mama kratzte sich am Kopf. „Es sind ja nur 2 Stunden. Du musst einfach mal ein bisschen reinhauen!“ Was für eine schlechte Ausrede! Ich schaute sie spöttisch an. „Jetzt zieh nicht so eine Schnute! Sonst musst du halt am Wochenende was machen“, sagte sie munter. Summend ging sie wieder hinaus, drehte sich im Türrahmen aber noch einmal um. „Wollt ihr nicht noch einen Spaziergang zum See machen? Es ist so schönes Wetter!“
Mayra machte Anstalten, ihr zu widersprechen doch ich kam ihr zuvor: „Tolle Idee! Wir werden sofort rausgehen.“ Ich sagte das so laut, dass es Mayra übertönte und sie sendete mir einen bösen Blick. Ich lächelte sie zuckersüß an, nahm sie an der Hand und zog sie mit nach draußen.
Als wir unten am See ankamen drehte ich mich zu ihr um und versperrte ihr den Weg. „So, ich hab dir mein Geheimnis gezeigt, jetzt bist du dran“, sagte ich und stemmte die Hände in die Hüften. Sie blickte auf einmal ängstlich zu mir auf. „Es ist aber nicht so toll wie deins“, sagte sie. „Eher schrecklich.“ Jetzt war meine Neugier erstrecht geweckt. „Erzähl“, drängte ich sie begierig. Sie schüttelte den Kopf und sah mich verständnislos an. Dann aber begann sie: „Ich hatte ja heute einen Albtraum. Aber es war kein normaler Traum. Er kam mir so wirklich vor weißt du? Ich weiß, das hat man manchmal aber das war ganz anders. Ich konnte mich danach auch noch genau daran erinnern. An alle Einzelheiten“, sie schauderte. „Er war kein bisschen durcheinander oder unlogisch. Ich hatte das noch nie vorher. Aber es war genau eine Woche vor meinem 7 Geburtstag nicht wahr? In dem Traum liefen wir durch diesen Wald hier“, sie breitete die Arme aus und zeigte auf unsere Umgebung. „Es war dunkel. Der Mond schien. Wir rannten in Richtung Haus und hinter uns her lief… lief… Mathias.“ Ich schnappte nach Luft. Das konnte doch gar nicht sein! Da kannte Mayra, Mathias doch noch nicht mal. Es sei denn… ich schauderte, es sei denn es die Zukunft. Mayra schien meine Gedanken zu erraten. „Ja, das bedeutet, ich kann in die Zukunft sehen. Das Schlimmste war noch nicht mal, dass wir vor im weggelaufen sind sondern, dass er einen Stock in der Hand hatte mit dem er uns offenbar schlagen wollte. Ich hab uns noch nie so schnell rennen sehen. Als wir am Garten ankamen war er schon ein Stück zurückgefallen. Er ist offenbar kein besonders guter Sportler“, sie kicherte. „Wir rannten durch den Garten und rein ins Haus. Er traute sich offenbar nicht hinterher. Dann bin ich aufgewacht.“ „Äußerst seltsam“, sagte ich. „Und beängstigend.“ „Ja“, sagte Mayra. Dann schwiegen wir eine ganze Weile.
„Ich hab dich lieb Mayra“, sagte ich plötzlich und zog sie an mich. „Und egal was passiert, wir bleiben immer zusammen okay?“, flüsterte ich in ihr Ohr. Sie nickte und umarmte mich ganz fest.
Von dem Tag an, waren wir uns näher als alle Geschwister der Welt da war ich mir sicher.
Einen Tag später saß ich angespannt auf meinem Bett und starrte auf die Uhr. Es war 16:20. In 10 Minuten würde Mathias kommen. Würde er mir etwas antun? Wahrscheinlich nicht denn in Mayras Vision jagte er uns ja erst als es dunkel war. Ich seufzte. Schon eine Dreiviertelstunde hockte ich auf meinem Bett und dachte darüber nach. Vielleicht bekam Mayra solche Visionen ja nur Samstagnachts. Denn heute Nacht hatte sie keine gehabt. Das hatte sie mir heute Morgen um halb sechs erzählt als ich in ihr Zimmer gestürmt kam und sie danach gefragt hatte. Plötzlich klingelte es an der Tür. Mein Herz blieb für einen Moment stehen und rast dann weiter. Zittrig stand ich auf, nahm meine Mathe Sachen und lief die Treppe runter um Mathias die Tür zu öffnen. Er sah genauso aus wie gestern. Er lächelte mich an und sagte: „Hallo Marisa, ich hoffe wir können heute dein Talent in Mathe ein bisschen aufbessern“, er zwinkerte mir zu. Ich konnte ihn nur anstarren, brachte dann aber doch ein „bestimmt“ über die Lippen und ließ ihn eintreten.
Doch die beiden Stunden verliefen ganz normal. Mathias war äußerst gut in Mathe und er konnte auch sehr gut erklären so dass ich am Ende der Stunde Textaufgaben mit Figuren und sogar Körpern rechnen konnte und mich fragte ob es vielleicht an meiner Lehrerin lag, dass ich kein Mathe konnte. Mathias gab mir die Hand zum Abschied und lobte mich.
Äußerst sorgenlos ging ich zurück in die Küche und deckte den Abendbrottisch.
So verliefen auch die nächsten Stunden und ich war mir sicher, dass ich in der Arbeit am Montag mindestens eine 3 schreiben würde. Es war eine perfekte Woche. Papa hatte angekündigt, dass er in zwei Wochen nachhause kommen würde und Mayra hatte keine weiteren gruseligen Visionen. Am Samstag feierten wir ihren 7. Geburtstag und gingen glücklich ins Bett. 4 Stunden später, es war mitten in der Nacht, wurde ich von einem Schrei geweckt. Er kam aus Mayras Zimmer. Ich stürzte sofort zu ihr. Da lag sie auf dem Rücken und wand sich in ihrer Bettdecke als hielte sie sie gefangen. Ich erschrak als ich auf ihre Augen guckte. Sie hatte sie so verdreht, dass man nur noch das Weiße sah. Kurz entschlossen nahm ich ein Glas Wasser, das auf ihrem Schreibtisch stand und kippte ihr es ins Gesicht. Sofort hörte sie auf zu schreien, schloss die Augen, setzte sich dann abrupt auf und riss die Augen wieder auf. „Geht es dir gut?“, fragte ich besorgt. Sie sah mich an als ob sie mich erst jetzt sehen würde und begann auf einmal haltlos zu weinen. „Nicht doch Mayra! Was ist passiert?“ ich legte ihr einen Arm um die Schulter und streichelte ihren nackten Arm der mit Gänsehaut überzogen war. Auf einmal kam Mama hereingestürzt, total verschlafen rieb sie sich die Augen. „Was ist denn los? Was ist passiert? Wer hat geschrien?“, fragte sie panisch und sah auf Mayra und mich herab. „Mayra hatte nur einen Albtraum“, sagte ich und schaute sie böse an als sie nichts unternahm. Sie schien immer noch nicht richtig wach zu sein. Anstatt sie zu trösten sagte sie einfach zu Mayra: „Ach Schätzchen, das hat man manchmal, du musst keine Angst haben.“ Fügte dann aber noch hinzu als sie meinen Blick sah: „Aber wenn du möchtest kannst du bei mir schlafen.“ Sie schüttelte stumm den Kopf und drückte sich enger an mich. „Na schön, du scheinst das hier ja zu regeln“, sagte Mama müde und ging wieder hinaus. Ich machte ihr keinen Vorwurf. Wenn sie müde war, war sie nie besonders führsorglich. Ich ließ Mayra los und schaute sie an: „Willst du bei mir schlafen?“ Sie nickte und ich nahm ihr Bettzeug und ging in mein Zimmer. Ich hatte ein riesiges Bett wo locker zwei Menschen drin schlafen konnten. Mayra folgte mir mit tapsenden Schritten und kuschelte sich eng an mich als wir uns hingelegt hatten. Sie schlief fast sofort ein doch ich lag noch lange wach. Das war jetzt das zweite Mal gewesen und es war wieder Samstagnacht geschehen. Irgendwann schlief ich ein, völlig übermüdet fielen mir die Augen zu.
Der nächste Tag verlief ziemlich still. Mayra saß den ganzen Tag in ihrem Zimmer und zeichnete. Nur zum Abendessen kam sie runter in die Küche.
Um 23:30 Uhr schlich ich in ihr Zimmer und weckte sie. „Lass uns runter zum See gehen“, flüsterte ich. Vielleicht konnte sie sich dann ein bisschen abregen. „Gehen?“, flüsterte sie zurück und lächelte. „Oder vielleicht?“ ich wusste was sie sagen wollte und lächelte ebenfalls. „Wenn du darauf bestehst.“ Sie hatte so viel durchgemacht letzte Nacht. Die Visionen schienen ihr sehr zu schaffen zu machen. Sie hatte ein bisschen Spaß verdient. Schnell zogen wir uns an und schlichen zum Ende des Gartens und zum Baum. Als wir auf dem Steg auftauchten den der Mond in ein bläuliches Licht tauchte, atmete ich erleichtert auf. Es war nicht so dunkel wie ich befürchtet hatte. Der See glitzerte und die Bäume rauschten in einer leichten Nachtbrise. Es war ein wenig unheimlich aber nicht beängstigend. Das fand Mayra anscheinend nicht denn sie begann auf einmal zu zittern und zu keuchen. „Wir müssen hier weg Marisa“, flüsterte sie panisch. Ich schaute sie verwundert an. Und folgte ihrem Blick. Mir blieb das Herz stehen. Mathias stand ein paar Meter weg von uns zwischen den Bäumen und starrte uns an. „Ach du scheiße“, entfuhr es mir und ich trat instinktiv zurück. Mathias starrte uns immer noch an. Dann, ganz langsam hob er einen Stock vom Boden auf. Kein kleiner Zweig, nein ein großer Ast mit dem man jemanden locker bewusstlos schlagen konnte. Ich ging noch einen Schritt zurück und fiel fast vom Steg. Verdammt! Wir konnten nicht weg. Wenn wir ins Wasser springen würden, müssten wir wegschwimmen und würden wahrscheinlich erfrieren. Außerdem glaubte ich nicht, dass Mayra es bis zum anderen Ufer schaffen würde.
Mathias betrat jetzt den Steg und blieb einige Meter vor uns stehen. Das Mondlicht fiel auf sein Gesicht und ich sah mit Entsetzen, dass er lächelte. „Bevor ihr sterbt wollt ihr bestimmt wissen, warum ich euch gleich ermorden werde“, sagte er mit seiner tiefen Stimme und in seinen Augen glitzerte es irre. „Ich werde euch töten, weil ihr anders seid. Ich bin ein Jäger wisst ihr? Ein Jäger der Hexen jagt. Schon meine Vorfahren taten dies vor hunderten von Jahren. Doch sie haben nicht geschafft, alle auszulöschen und dafür bin ich zuständig. Ich hab ein Gefühl wo Magie ist. Bei eurem Haus habe ich sie ganz deutlich gespürt. Mayra, du kannst in die Zukunft sehen nicht wahr? Das gibt es nur noch sehr selten. Du musst vernichtet werden ist dir das klar? Du musst vernichtet werden!“, brüllte er. Irre, dachte ich. Er ist vollkommen irre! „Und du Marisa, du bist nichts Besonderes. Du hast keine Magie. Mit diesem Baum kann jedes Kind teleportiert werden aber du könntest deine Magie noch bekommen. Und bevor das passiert unternehme ich lieber was dagegen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Klatsch.“, er machte eine Bewegung, die wohl eine Fliegenklatsche darstellen sollte, wie sie zwei Fliegen zerquetschte. Ich musste schaudern. Er war vielleicht irre aber das machte ihn umso gefährlicher. „Deshalb werde ich euch jetzt töten. Weil ihr Hexen seid. Ihr seid eine Bedrohung für die Welt. Ihr seid meine Gegner.“ Er hob den Stock und wollte gerade zuschlagen als mein Reflex erwachte. Ich nahm Mayra an der Hand, tauchte mit ihr unter Mathias Armen hindurch und schubste ihn ins Wasser. Fluchend und paddelnd kam er wieder an die Oberfläche und funkelte uns zornig an. „Lauf!“, schrie ich Mayra an und sprintete selber los, Mayra gleich hinter mir. Wir hörten, wie Mathias sich aus dem Wasser zog und uns hinterherrannte. Ich drehte mich um. Er hielt immer noch den Stock in der Hand. Ich bekam eine Gänsehaut. Es war genau wie in Mayras Vision. Wir sprinteten den Sandweg hoch, Mathias auf den Fersen. Als wir im Garten ankamen, lag er ein bisschen zurück. Wir rannten auf das Haus zu. Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, zum Baum zu rennen und von da aus ins Haus zu springen, es wäre wahrscheinlich auch schneller gewesen und ich fragte mich noch Jahre danach, warum wir es nicht getan hatten. Als wir ankamen, stürzten wir durch die Hintertür. Und verriegelten sie. Klar, wenn er es wirklich ernst meinte konnte Mathias die Terassentür die aus Glas war auch einfach mit dem Stock zerschlagen aber das würde uns Zeit geben. Ich hatte nämlich einen Entschluss gefasst. „Hör zu Mayra“, flüsterte ich als wir oben waren. „Wir müssen hier weg. Er wird uns für immer jagen und die Polizei würde uns nicht glauben. Wenn wir auch nur einen Tag länger hierbleiben sind wir morgen tot. Wir müssen fliehen. Irgendwo hin wo er uns nicht findet. Pack deine wichtigsten Sachen. Wir treffen uns in 5 Minuten wieder hier.“ Damit stürzte ich in mein Zimmer und packte selbst meine wichtigsten Sachen. Ein paar Klamotten, meine Kulturtasche, ein paar andere Sachen und ein Fotoalbum von meiner Familie in eine große Tasche. Ich kritzelte eine Nachricht für Mama, die ich auf meinen Nachttisch legte und unterdrückte ein Schluchzen. Auf dem Zettel stand:
Liebe Mama, wenn du das liest, sind wir schon fort. Es wird uns gut gehen, dort wo wir sind und du musst dich nicht um uns sorgen. Wir werden nicht mehr zurückkommen können aber wir sind gezwungen zu fliehen. Nimm dich vor Mathias in Acht.
Wir lieben dich und wir werden es immer tun. Grüße Papa von uns und sage ihm, dass wir ihn genauso lieben. Danke für alles.
In Liebe, Marisa und Mayra
Auf einmal hörte ich ein lautes Poltern. Ich schaute hinaus und zuckte zusammen. Mathias kletterte die Regenrinne hoch. Eins stand fest: er konnte vielleicht nicht schnell rennen aber klettern konnte er. Er war jetzt fast an meinem Fenster angelangt. Den Ast zwischen den Zähnen. Ich packte die Tasche und stürzte in Mayras Zimmer. „Komm!“, rief ich und rannte die Treppe runter. Hinter mir hörte ich Mathias das Fenster einschlagen. Ich geriet in Panik. Wir mussten noch ganz hinunter zu den Bäumen laufen und ich war nicht einmal sicher ob mein Plan funktionieren würde.
Als wir am Baum ankamen und hineinstiegen, kam Mathias schon durch den Garten gelaufen. Der Eingang verschloss sich hinter uns und ich atmete tief durch. Jetzt musste ich mich Konzentrieren. „Mayra“, sagte ich zu ihr und tastete in der Dunkelheit nach ihr. „Gib mir deine Hand. Du darfst jetzt nichts denken. Lass dich einfach von mir führen okay? Wir werden jetzt zu einem Ort reisen, an dem wir noch nie waren.“ Mayra wollte wohl gerade fragen, wie das gehen sollte doch ich schnitt ihr das Wort ab. „Frag nicht. Ich mach das schon. Du warst sehr tapfer heute. Du hast schon genug getan.“ Ich schloss die Augen und stellte mir eine Insel vor. Eine Insel auf der wir leben konnten, eine Insel auf der Mathias uns nicht finden konnte, auf der wir zu essen und zu trinken hatten und auf der wir ein Haus hatten in dem wir leben konnten. Eine Insel, weit weg von hier und groß genug um den Rest unseres Lebens darauf zu verbringen. Eine Insel auf der keine Gefahr drohte. Als ich das perfekte Bild vor Augen hatte, begann ich mich zu drehen und ich führte Mayra. Das kribbelnde Gefühl kam wieder und jetzt gab es kein Zurück mehr. Im Stillen verabschiedete ich mich ein letztes Mal von unserem alten Leben und dann ließen wir den Baum auf unerklärlicher Weise hinter uns. Und auf einmal dachte ich nur noch an eins: ich war nicht allein. Ich hatte meine Schwester und das war das Wichtigste. Wir hatten einander und wir würden zusammen leben bis wir starben.