Veröffentlicht: 20.11.2013. Rubrik: Unsortiert
Frau Wiedemann
Sabine saß, wie so häufig, gerade am Frühstückstisch und schlürfte ihren Kaffee. Wie immer war es um diese Zeit ganz ruhig. Kein Straßenlärm, keine Hausgeräusche. Doch halt, da flog „Rumms“ die Tür der Nachbarswohnung zu. Schlurfende Schritte, leise tapsende Pfoten. Frau Wiedemann ging mir ihrem Hund Boris spazieren. Ohne auf die Uhr zu schauen, wusste Sabine wie spät es jetzt war: zehn vor sieben. Nicht ungefähr zehn vor sieben, nein wenn die Tür ins Schloss fiel war es Punkt 6:50 Uhr. Und genau zehn Minuten später wurde der Schlüssel im Schloss herumdreht, um die Tür wieder aufzusperren. Nicht ungefähr zehn Minuten später, sondern Punkt sieben Uhr. Montags wie Dienstags und jedem anderen Tag der Woche, ja sogar am Wochenende.
Warum kann sie nicht einfach mal ausschlafen?, fragte sich Sabine oft, aber Frau Wiedemann dachte nicht daran. Tagaus, tagein, 6:50 Uhr: „Wumm“, 7:00 Uhr: „Knirsch“. Letzte Woche, letzten Monat, letztes Jahr und deshalb auch morgen und nächste Woche und bis in alle Ewigkeit.
Das ist doch krank! Sie wusste eigentlich nicht so genau, was sie daran störte. Im Grunde konnte ihr Frau Wiedemann egal sein. Sie kannte sie kaum, denn außer morgens mit Boris schien sie sich selten mal aus der Wohnung zu bewegen. Eigentlich eine Ideal-Nachbarin, wenn man sein Büro zu Hause hatte. Eine, die man weder hörte noch sah. Außer morgens. Diese ominösen zehn Minuten.
Konnte der Hund nicht mal Verstopfung haben oder Durchfall oder am besten sogar beides zusammen? Solche Gedanken konnte Sabine kaum vor sich selber zugeben. Sie schienen genauso albern, wie ihre neulich inszenierte Störaktion. Glücklicherweise ahnte niemand, dass es Absicht war, als sie eines Morgens mit freudiger Erregung, einen vermeintlich schweren Müllsack genau um 6:49 Uhr aus der Tür wuchtete und dann die Treppe hinunter schleifte. Jeder Schritt eine Mühsal. Stöhnend und ächzend brauchte sie ganze drei Minuten bis zur Mülltonne. Denn zuvor hatte sich dieser Sack doch tatsächlich noch in der Eingangstür verhakt. Natürlich hatte sie sich bei Frau Wiedemann entschuldigt, die geduldig hinter ihr die Treppe herunter gekommen war. Ebenso geduldig wie Boris, der altersschwache Cockerspaniel. Frau Wiedemann nickte nur freundlich und ging an ihr vorbei.
Ha! Sabine rieb sich die Hände. Und nun Frau Wiedemann? Es ist bereits 6:55! Das schaffst du nie! Munter sprang sie die Treppe hoch. Sie fühlte sich, als hätte sie soeben den ultimativen Werbeslogan gefunden, der ihr für die neue Kosmetik-Campagne noch fehlte. Sie ging in ihre kleine Wohnküche, räumte den Tisch auf. Hier konnte sie am besten zum Treppenhaus hinaus lauschen.
Waren da etwa Schritte? Nein, das konnte doch nicht sein, oder? Im Radio ertönte der Sieben-Uhr-Gong und - drüben wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht.
Neiiiiiin! Sabine sank auf den Stuhl und stütze den Kopf in die Hände. Wieso? WIESO? Wütend trommelte sie auf dem Tisch herum.
An diesem Tag fand sie keinen guten Werbeslogan mehr. Stattdessen spukten ihr ganz aberwitzige Ideen durch den Kopf, so wie die von einer maskierten Person, die Frau Wiedemann so lange festhielt bis es 7:01 Uhr war.
Nach dieser schmachvollen Niederlage versuchte sie die morgendlichen Wiedemann-Geräusche einfach zu ignorieren. Das konnte ja eigentlich auch nicht so schwer sein. Andere gewöhnten sich schließlich sogar an Züge, die fast durchs Wohnzimmer schnaubten. Aber es war wie verhext, je mehr sie versuchte, sich nicht mehr um Frau Wiedemann zu kümmern, um so lauter hörte sie das Zuschlagen und Aufschließen der Tür. Ja sie lauerte sogar direkt darauf. Würde es nicht heute einmal ausbleiben? War Frau Wiedemann vielleicht krank? Jeder war irgendwann mal krank. Und Frau Wiedemann war immerhin schon eine betagte Frau. So wie ihr Hund. Doch Frau Wiedemann wurde nicht krank. Sabine schämte sich. Wie konnte sie einer armen alten Frau nur so hässliche Dinge wünschen. Aber wie war es mit dem Hund? Nur so eine miniwinzige Erkältung, so eine, die nur einen einzigen Tag dauerte.
Der Tag kam völlig unerwartet. Sabine schlürfte ihren Morgenkaffee und überdachte missmutig die Aufgaben, die vor ihr lagen. Der Text für die neue Cremeserie musste komplett überarbeitet werden. Nicht nur, dass er vor Rechtschreibfehlern nur so strotze – statt ohne Konservierungsstoffe hatte sie mit Konservenstoffen geschrieben - irgendwie klang auch alles mehr nach Falten und Blässe statt nach Frische und Pfirsichhaut. Diese Creme würde höchstens jemand kaufen, der sich die Haut ruinieren wollte - oder jemand, der einem andern eine Gesichts-Allergie verpassen wollte…
Während sie so vor sich hingrübelte, ertönte im Radio der Sieben-Uhr-Gong. Sie fuhr in die Höhe, schüttete heißen Kaffee über ihre rote Seidenbluse, sprang mit spitzem Schrei auf und sackte dann auf den Stuhl zurück. Was war passiert?
Sie hatte Frau Wiedemann überhört. Das gab´s doch gar nicht. Wie konnte man ein so auffälliges Geräusch einfach überhören? Sie hatte es doch gestern noch gehört. Laut und überdeutlich. Deutlicher noch als den Presslufthammer, der seit einigen Tagen um sieben Uhr die halbe Straße aufriss. Oder eben fast um sieben Uhr. Der Mann war ja nicht so bescheuert wie die Nachbarin. Auch jetzt konnte sie den Presslufthammer knattern hören. Frau Wiedemann hatte sie nicht gehört. Sollte sie jetzt weinen oder lachen? Hatte sie sich nicht genau das immer gewünscht?
Am nächsten Tag verpasste Sabine ihre Nachbarin ebenfalls. Es war unglaublich. Plötzlich schien sie Wiedemann-taub zu sein. Sie kam ja ganz durcheinander mit ihrem eigenen Zeitplan. Sie hatte immer zwischen 6:50 und 7:00 Uhr ihren Frühstückstisch abgeräumt aber jetzt war sie schon zum zweiten Mal erst durch den Sieben-Uhr-Gong hochgeschreckt worden. Sie wusste nicht so genau, was sie daran wirklich störte. Aber so konnte es auch nicht weitergehen. Am nächsten Tag stellte sie ihren Wecker: 6.49 Uhr. Sabine schlich in ihren Flur und horchte nach draußen . Nichts. Kein „Bums“, keine Frau Wiedemann und auch kein Boris. Was war los?
Unruhig marschierte sie durch die Wohnung. Da war sie nun, diese miniwinzige Erkältung, sagte sie sich, doch ein triumphierendes Gefühl wollte sich nicht einstellen. Im Gegenteil, bei dem Gedanken ging es ihr eher noch schlechter. Sei nicht albern, das ist nicht deine Schuld, schimpfte sie und fuhr sich unglücklich durchs Haar.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, rannte aus der Wohnung und schellte an der Nachbarstür. Nach langen Minuten öffnete sich ein Spalt und ein uraltes, faltiges Gesicht tauchte auf. Sabine brauchte eine Weile, um Frau Wiedemann zu erkennen.
„Ähhem“, räusperte sie sich.
„Kommen Sie doch rein, sagte das faltige Gesicht müde aber freundlich, und die Tür glitt auf. Frau Wiedemann im blaugeblümten Morgenmantel mit etwas zerzausten Haar winkte kraftlos und Sabine trat zögernd ein. Als sie dann am Küchentisch saßen, jeder eine Tasse heißen Tee in der Hand, begann Frau Wiedemann zu erzählen
Vor zwei Jahren war ihr Mann Heinrich verstorben. „Heinrich war immer so pingelig gewesen, alles musste pünktlich gemacht werden, alles musste immer an seinem Platz sein. Nicht irgendwie und ungefähr sondern ganz akkurat. Alles gerade in einer Richtung angeordnet, immer in der gleichen Reihenfolge.“ Frau Wiedemann seufzte leise, bevor sie die nächsten Worte mehr heraushauchte als sagte: „Es war schrecklich.“ Sie legte ihre Hände in den Schoss und blickte gedankenverloren in ihre Teetasse.
Nach ein paar Schweigeminuten erfuhr Sabine, dass Frau Wiedemann dann nach Heinrichs Tod erkannte, was sie eigentlich alles an ihm gehabt hatte.
„Und ich habe immer so herumgeschimpft, wegen seiner Pingeligkeit. Wir haben fast nur noch gestritten die letzten Jahre. Oft habe ich mit Absicht was andersherum gelegt, an eine andere Stelle gesetzt, bin unpünktlich gewesen. Nur um ihn zu ärgern, nur um da eine Störung in diese übertriebene Ordnung zu bringen, verstehen Sie?“
Oh, Sabine verstand nur zu gut und bekam einen roten Kopf.
„Dabei hatte er doch auch so viel Gutes getan. Aber das habe ich erst nach seinem Tod bemerkt. Als ich es nicht mehr hatte. Da habe ich gemerkt, was ich mit ihm verloren habe.“ Frau Wiedemann seufzte wieder. „Und denken Sie mal, es dauerte nicht lange und ich hab sogar seinen Ordnungsfimmel vermisst. Ist das nicht unglaublich? Oh, ich habe ihm so unrecht getan, ihn so geplagt. Und dann, dann habe ich zu Boris gesagt, pass auf, wir machen das jetzt wie Herrchen, wir gehen immer zur gleichen Zeit. Ganz pünktlich Übergenau pünktlich. So wollen wir sein Andenken hoch halten, und dann kann er von da oben zusehen und sich nachträglich über uns freuen.“ Frau Wiedemann verstummte und Sabine sah sie fragend an. „ Ja, und nun ist auch der Boris gestorben.“
Boris war plötzlich krank geworden – Sabine schluckte einen dicken Kloß herunter – und dann war alles sehr schnell gegangen. Erst vertrug er die Medikamente nicht – „er war ja auch schon 15 Jahre alt“ – dann verfiel von einem Tag auf den anderen, konnte kaum noch atmen – Lungenentzündung, aus.
“Gestern habe ich ihn beerdigt, mit Monika, der Tochter von unserem Bäcker, Sie wissen schon.“ Sabine wusste nicht.
„Die Monika hat Boris ja am Nachmittag immer ausgeführt, das haben Sie sicher bemerkt, nicht war?“ Sabine hatte nichts bemerkt. Überhaupt nichts. Schlagartig wurde ihr klar, wie wenig sie von Frau Wiedemann mitbekommen hatte, obwohl sie doch Tür an Tür wohnten. Eigentlich hatte sie nie auf sie geachtet, nur auf diese morgendliche Gassi-Geh-Runde.
„Ich kann ja nicht mehr so viel laufen,“ fuhr Frau Wiedemann fort. „Und Monika hat dann immer noch einen Kakao bei mir getrunken.“ Frau Wiedemann trank einen großen Schluck Tee und schaute aus dem Fenster. „Die Monika kommt natürlich jetzt auch nicht mehr.“
Überwältigt von einer Vielzahl von Gefühlen und dem Eindruck, sie müsse jetzt unbedingt etwas „Richtiges“ sagen, konnte Sabine sich gerade noch das „Wie wäre es mit einem neuen Hund?“ verkneifen. Nein, ein quirliger junger Hund, das passte gar nicht. Doch im gleichen Moment reifte ein ganz anderer Gedanke in ihr. Ein absurder Gedanke. Und schnell, bevor sie es sich noch anders überlegen konnte, machte sie Frau Wiedemann ihr Angebot.
Erst etwas ungläubig und zögerlich, doch dann verhalten lächelnd nahm Frau Wiedemann an.
„Ja dann… dann vielen Dank auch, und bis morgen früh, ich … ich freu mich schon“, sagte sie sichtlich gerührt und begleitete Sabine bis zur Tür.
„Ich freue mich auch“, antwortete Sabine wahrheitsgemäß und drehte sich noch mal um. „Ähm, Frau Wiedemann, … es könnte aber eventuell ein bisschen später werden“, sagte sie und hob unsicher die Schultern.
„Aber das macht doch gar nichts“, sagte Frau Wiedemann und sah schon wieder etwas jünger aus, „wenn Sie nur überhaupt kommen. Was machen da schon ein paar Minuten hin oder her. Heinrich muss das verstehen.“