Veröffentlicht: 12.05.2020. Rubrik: Nachdenkliches
Eine alltägliche Bahnfahrt
Stuttgart Hauptbahnhof. Freitag Abend um 20:37 Uhr. Es ist der 20. Dezember. Achtung, Achtung Einfahrt S3 Richtung Flughafen/Messe. Auf Gleis 101. Vorsicht bei der Einfahrt. Mit einem altbekannten Dröhnen rauscht das rote, mit Graffiti besprühte, schmutzige Gefährt ein. Mit zwei grellen Augen. Die verleihen ihm einen Tunnelblick und leuchten die lange Schlange durch die schwarze Röhre. Die Bremsen quietschen, die Türen zischen - alles Geräusche, die ich nicht wahrnehme; ich steige ein.
Augenblicklich stoßen mir tausende Gerüche, Farben und Geräusche entgegen, die sich zu einem einzigartigen, untergründigem Klangteppich vermischen. Die rote Limousine setzt sich in Gang und ich tue es ihr gleich. Ein lächelnder älterer Mann kommt mir (entgegen), mit Buckel und großer Plastiktüte, er fragt mich nach einer Pfandflasche, doch ich muss entschuldigend verneinen. Er bedankt sich trotzdem, wünscht mir frohe Weihnachten, ich gehe etwas verwirrt davon. Im ersten Abteil sitzt eine ältere Frau, schlicht gekleidet, mit Handtasche und einem Buch in der Hand. Vertieft liest sie in Hermann Hesses Steppenwolf. Ich schenke ihr ein Lächeln, sie blickt nicht auf, ich laufe weiter. Ich komme zu vier gegenüberliegenden Sitzen auf welchen vier Studenten feuchtfröhlich mit lauter Musik den Anfang des Wochenendes feiern und versuchen, dem grauen Alltag zu entfliehen. Ich laufe weiter, die Musik hinter mir wird langsam leiser, bis der Alkoholgeruch in Stress und sensible Stille übergeht, als ich zwei gutbekleidete Geschäftsmänner passiere, die augenscheinlich dem Stress zuhause durch Kopfhörer, Laptop und Arbeit auf dem Schoß entfliehen wollen. Seid stark und mutig, alle, die ihr auf den Herrn hofft, lese ich auf einem Psalmaufkleber, der leicht verrutscht neben Commando Cannstatt das verdreckte Fenster ziert. Im Abteil drunter sitzt alleine eine Frau in schwarzer Burka, den Kopf gesenkt. Zwei Meter weiter lässt sich ein Pärchen davon nicht stören, der Mann haucht ihr ein paar Worte auf Arabisch ins Ohr und fängt an, sie leidenschaftlich zu küssen. Schnell gehe ich weiter und tauche ein, inmitten der Diskussionen einer indischen Großfamilie, die fast drei ganze Abteile besetzt. Ich wende meinen Blick von den bunten Saris ab und beschleunige meinen Gang, um dem mir fremden, unangenehmen Geruch zu entfliehen. Die depressive, gelangweilte Stimmung von den folgenden auf ihr Smartphone starrenden Kreaturen kann ich nicht ertragen, doch auch im nächsten Abteil zwischen muskulösen Jugendlichen in Jogginghose und Cap, die sich auf fremdisch beschimpfen, fühle ich mich nicht wohl. Ende des Zuges. Ich mache Halt und nehme einen tiefen Atemzug. Nächster Halt: Österfeld. Da ist wieder der freundliche Herr von vorhin. Ich nehme einen letzten Schluck aus meiner roten Cola-Dose, halte sie ihm hin und wünsche frohe Weihnachten. Die Bremsen quietschen, die Türen zischen - alles Geräusche, die ich hier jedes Mal intensiv wahrnehme; ich steige aus.
Kulturen, Religionen, Sprache, Gefühle - bereichernde Fremde; in 13 Minuten. Der rote Verbinder bahnt sich seinen Weg in die Dunkelheit, während ich gedankenversunken durch den weißen Schnee nach Hause schlendere.