Veröffentlicht: 24.04.2020. Rubrik: Unsortiert
EIERSEHEN
Hellsehen? Schwarzsehen? Eiersehen hier in meiner Wochengeschichte nachzulesen:
EIERLESEN
Für heute hat sich mein Onkel zum Kaffee angemeldet. Ein alter Mann. Am Stock gehend. Angemeldet trotz Besuchsverbots und Ausgangssperre in seinem Seniorenheim. Wie er dort entwischen will bei den strikten Tür Kontrollen ist mir ein Rätsel. Aber, sei es wie es sei. Respekt vor dem Alter gebietet mir den Tisch nach alten Müttern Sitten hübsch zu decken. Einen Obstkuchen zu backen. Ohne Zucker wie es sich gehört für alte Menschen die möglicherweise, was ich nicht hoffe, an Diabetes leiden könnten. Zuckerdose, Puderzucker und Süssstoff fein neben dem noch im Ofen weilenden Kuchenblech, das diesen Platz ehrwürdig und duftend bald einnehmen wird, drapierend. Ein Kauz ist er allemal der Onkel Paul. Was erzählte man sich in der Familie nicht alles von seinen Jugendeskapaden, Frauengeschichten, Abenteuern die oft zu teuren Morgenenden geführt haben sollen. Unterhaltsam ist Onkel Paul allemal und so freue ich mich auf seinen Besuch. Setze die Sessel, messe dies mit dem Metermass nach, in genau zwei Metern Distanz auseinander. Will ihn schützen. Oder mich? Er kommt ja aus dem Seniorenheim und dort könnte allerhand geschehen sein.
Die Haustürklingel singt ihr melodisch abgestimmtes Lied. Ich schreite gemessenen Schritts, wie kann es bei dieser Persönlichkeit anders sein, die Treppe, als sei ich eine Adlige, herab. Will den Schlüssel im Schloss drehen. Doch ein Geistesblitz hindert mich in letzter Sekunde daran. Muss noch das Osternest mit seinen harten, bunt gefärbten Eiern auf dem Tisch platzieren, obwohl das Nest bereits einer der Gegenwart entrückten Vergangenheit angehört, doch die harten Köstlichkeiten müssen verzehrt werden um nicht zu verderben. Eine bessere Gelegenheit bietet sich nicht, denn Onkel Paul ist der Küche seiner Residenz zu verdanken, stets hungrig. Haste die Treppe hoch. Hauche in die Gegensprechanlage:
‚Onkel, komme gleich, muss den Kuchen aus dem Ofen retten’, lege mein Osternest als sei es eine Preziose auf den bereiteten Tisch, nehme das Kuchenblech mit meinen Topflappen aus dem Ofen. Riecht himmlisch. Was freue ich mich darauf, wenn der Onkel Mitleid hat, mir ein Stück, wenn auch nur ein kleines, übrig lässt. Eile wieder zur Türe. Öffne. Nein, nicht umarmen! Mit der Hand aufs Herz begrüssen. Meiner Freude durch ein umwerfend heiteres Lächeln zum Ausdruck bringen! Hinein bitten. Nach oben führen. Voller Stolz an den Tisch führen. Bitten Platz zu nehmen. Kaffeekanne holen. Einschenken. Milch anbieten. Er nimmt drei Stück Würfelzucker. Also keine Zuckerkrankheit.
Paul lobt das Osternest, bewundert die Ostereier. Bemerkt er sei allergisch auf Farben. Ein Attribut seines hohen Alters. Bittet um ein weisses Ei. Ein rohes. Eile zum Kühlschrank, mir überlegend was ich dann mit den harten unternehmen soll. Bringe das Ei, dieses vorsichtig in den Händen haltend, meinem Onkel Paul. Er verlangt den alten Brauch des Eierklopfens mit mir durchzuführen. Legt mir ein rotes, hart gekochtes in die Hand. Klopft mit seinem rohen heftig auf mein hartes. Und oh Wunder meines zerbricht! Worauf er, mit einem Lachen auf den Stockzähnen, bemerkt:
„Die Weisheit des Alters lehrt, du wirst es auch noch lernen, dass die Tatsachen im Leben oft nicht so sind wie diese den Anschein haben …“
Herzlichst
François