Veröffentlicht: 08.10.2019. Rubrik: Unsortiert
Tauchen
Mittags. Noch ein heißer Tag.
Die Jalousien sind heruntergelassen, das blendende Licht scheint kaum durch. Der Raum liegt im Halbschatten. Sie bleibt vor dem Waschbecken stehend, die zerzausten Haare kleben schweißnass an ihrer Stirn und ihrem Hals. Sie taucht langsam und sorgfältig die Gläser in laufendes Wasser. Sie genießt den erfrischenden Kontakt.
Das Wasser bewegt sich ständig in regelmäßigen Kreisen und ein Bild fällt ihr ein.
Vor vielen Jahren. Zwei Freundinnen, zwei junge Frauen mit Kindstimmen liefen barfuß durch das ausgetrocknete und verlassene Land mit heftigen Schritten. Die Sonne verbrannte die Pflanzen, die vereinzelten Tiere und die Haut, aber die Füße waren an die siedenden Steine und die Erde gewohnt. Sie waren in dieser Hitze unterwegs, weil sie keine Lust darauf hatten, zu Hause zu bleiben, wo die Tage sich wiederholten und die Wörter nie etwas neues sagten.
Sie wollten die Klippe erreichen, sie waren fast am Ende des Weges angekommen und das Meer leuchtete lebendig, blau und tief vor ihnen. Sie spürten das Salz und das sauersüße Geruch des Meeres, das mit dem Geruch ihres Schweißes sich vermischte.
Der Abstieg an die Felsen war steil, die Mädchen stiegen erfahren und schnell hinunter. Gewöhnlich kamen sie bis die niedrigsten Felsen herunter, von denen das Wasser bequem lag. In dem Tag fühlte eine der beiden sich mutig und sagte der Freundin, sie werde sich von der höchsten Klippen stürzen.
Schon immer hatten die beiden über dieses gewagte Vorhaben gesprochen und davon geträumt. Die Klippe war so hoch, dass die Beine begannen zu zittern, wenn sie hinunterschauten.
"Bist du sicher?" fragte die Freundin schattenhaft.
Die Entscheidung wurde getroffen. Die beneidete Heldin näherte sich vorsichtig dem Absturz. Sie schloss die Augen. Die Luft war heiß und regungslos, sie hörte das Brechen der Wellen mehr unten. Dann hörte sie nichts mehr. Es war still. Ein schritt und sie ließ sich in die Leere fallen. Einz, zwei, drei, vielleicht vier Sekunden und endlich tauchte sie in das Blauen. Sie nahm das Meer überall um sich herum wahr. Für einen Augenblick war sie selbst Meer geworden.
Jetzt erinnert sie sich deutlich an das Gefühl, plötzlich war alles an diesem Tag möglich geworden. Sie kann sich noch sehen, sie kommt aus dem Wasser heraus, und frohlockend erreicht sie ihre Freundin, die die Träne nicht bemerken kann.
©Arianna Bonvicin 2017