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5xhab ich gern gelesen
geschrieben 2024 von Charisma & Marlies (Charisma).
Veröffentlicht: 15.04.2024. Rubrik: Nachdenkliches


Vom alten Baum

Der alte Baum steht mitten in der Stadt

auf dem Rondeel in der Fußgängerzone, stolz und mächtig breitet er seine Äste aus, der Sonne entgegen. Ein paar Meter Rasen rings herum, Narzissen im April, Stiefmütterchen im Mai. Das Grün ist gut geschützt, da ist ein zwei Handbreit hohes Zäunchen aus rund gebogenem Draht und ein Schildchen: „Hier kein Hundeklo““ , eine Bank und ein Papierkorb daneben. Wirklich nett gemacht - die alte Eiche mag das stadtplanerische Getue und auch das städtische Wasser, das ihr den Hochsommer auf dem kleinen Rondeel so angenehm erträglich macht. „So ein Baum ist so gut für unsere CO2-Bilanz“, hat der Bürgermeister gesagt bei der Einweihung vom Rondeelchen.

Der alte Baum sieht das Treiben auf den gepflasterten Wegen, sieht Kinderwagen und Einkaufstaschen und Eistüten in Kinderhänden und Smartfones in den Händen der Größeren. Kaum einer sieht zu dem alten Baum hin. Die meiste Zeit, besonders an grauen Regentagen, sonntags sowieso ist der Baum versunken in seinen Erinnerungen.
Vor hundert Jahren war er jung, umgeben von anderen Bäumen, eine Eiche im Knick. Artgleiche, aber auch andere Arten standen an den Rändern des Feldes. Menschen sah er nur, wenn sie die Äcker bearbeiteten, dafür aber viele Tiere, Rehe, Hasen. Wildschweine und natürlich die vielen Vögel. Manche wählten ihn aus, um dort ihre Nester zu bauen und er hatte sie gern zu Gast und bot ihnen Schutz, ihren Nachwuchs aufzuziehen – dieses Gezwitscher, diese Freude!
Und nachts der Sternenhimmel über ihm, dort meinte er seine Ahnen zu sehen. Auf jeden Fall boten die funkelnden Sterne Raum für fantastische Ideen und Träume. Die Nachtluft war rein und sauber, und der junge Baum atmete Sauerstoff.

Dann kam der Tag, an dem der Bauer und der Knecht mit der Motorsäge den Knick zu fällen begannen. „Die Eiche da“ sagte der Bauer, „die ist kräftig und gut gewachsen, die bleibt als Überhälter“. Denn der Bauer wusste noch, wie man das macht mit dem Knick und so blieb der Baum stehen.
Die Vögel behielten ihre Nester und die Eiche sah den Tag, an dem die Bagger kamen. Eine Strasse wurde gebaut zur Erschließung des Neubaugebietes. „Die Eiche da ist der Grenzbaum“, sagte der Ingenieur mit dem gelben Helm, „die muss stehen bleiben“. Und sie banden Bretter mit Draht um den stattlichen Stamm und gaben sich auch Mühe seine Wurzeln zu schonen, was meistens, wenn auch nicht immer, gelang. Das tat dem Baum weh, und auch die Luft war nicht mehr so rein und die Sterne nicht mehr so klar. Denn die Stadt wuchs und der Verkehr mit der Stadt. Abgase von vielen hundert Autos jeden Tag, Leute, die achtlos Müll hinwarfen, die Zigarettenkippen an seiner Rinde ausdrückten oder mit scharfem Messer Zeichen hinein ritzten. Licht und Sonne verschwunden, Tiere und Vögel verschwunden Nichts Schönes konnte er mehr entdecken. Der Asphalt ließ kein Wasser mehr zu ihm dringen, und der Staub der Straße verstopfte die Poren seiner Blätter. Dicke schwere Reifen parkten auf seinen empfindlichen Wurzeln. Der alte Baum dachte ans Sterben.

Doch hatte endlich irgendwer seine Leiden bemerkt. Vielleicht war es nur ein Wettbewerb, ein Gefallenwollen, ein Wahlversprechen. Da stand eine Gruppe mit wichtiger Miene unter seiner breiten Krone, zeigte auf dieses und jenes, sprach von einer Schande für die Stadt, von Naturdenkmal und von landschaftsbestimmenden Elementen – der alte Baum horchte auf und obwohl er die neue Sprache nicht verstand, keimte doch Hoffnung in ihm auf wie die Knospen im Frühling.

Wieder kamen Bagger, wieder Bretter um seinen Stamm, der in über hundert Jahren so dick geworden war, dass ihn grade zwei Menschen umspannen konnten.
Sie sperrten den Verkehr aus, und die Luft wurde sofort besser. Sie pflanzten Blumen und Büsche; denn sie machten den Platz schön für Menschen mit Kinderwagen und Einkaufstaschen und Eistüten. Aber sie gaben dem alten Baum ein Stückchen Natur zurück, gaben seinen Wurzeln wieder Platz und seinen Blättern wieder Sonne. In seiner Krone nisteten wieder Vögel, Der Baum atmete zum Dank jede Nacht wieder Sauerstoff für die Menschen. Obwohl die natürlich nichts wussten von dem Baum und seiner Geschichte und schon gar nichts davon, dass er die Menschen manchmal nachdenklich betrachtete und dabei beschloss noch sehr lange zu leben.

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Kommentare zu dieser Kurzgeschichte

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geschrieben von HanaLores am 16.04.2024:

Ein kleiner, leiser Lichtblick.. Danke




geschrieben von RudiRatlos am 16.04.2024:

dreimal gerne gelesen ...




geschrieben von rubber sole am 16.04.2024:

>Marlies:

Schön geschrieben, Marlies: übers Leben, Erhaltenswertes, ums Kümmern und über Sinngebung.
l.g.r.s.





geschrieben von Marlies am 16.04.2024:

Ein spannendes Experiment.
Charisma und ich haben uns zum Schreiben getroffen.
Thema: BAUM
(Wurde von einer vorbeikommenden Fußgängerin vorgegeben)
Am Ende hat Charisma beide Geschichten, zu
Einer vereint.





geschrieben von Bad Letters am 16.04.2024:

Hallo Charisma & Marlies,
eine gelungene Kooperation wie ich finde. Zusammen schreiben ist gar nicht so einfach. Chapeau!


MfG
Bad Letters


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